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Wir Kinder der Kriegskinder

Wir Kinder der Kriegskinder

Titel: Wir Kinder der Kriegskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Ev Ustorf
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angesiedelt. Doch auch dort blieben sie nicht lange: Als der älteste Sohn bei einem Autounfall ums Leben kam, zog die Familie weiter nach Nordrhein-Westfalen. Im Krankenhaus der Kleinstadt Beckum fand Sabines Mutter eine Anstellung als Krankenschwester und lernte dort schließlich Sabines Vater kennen. Auch er warein Flüchtlingskind aus dem Osten; als 13-Jähriger war er 1945 mit seiner Familie von Ostpreußen nach Nordrhein-Westfalen geflohen.

    Über die Flucht des Vaters wusste Sabine bis vor kurzem überhaupt nichts. „Neulich hat er zum ersten Mal darüber gesprochen“, erzählt sie. „Als dieser Zweiteiler Die Flucht im ZDF lief. Er rief mich an und fragte: ‚Hast du den Film gesehen?‘ Als ich das verneinte, sagte er: ‚Wieso nicht? Ich war doch dabei!‘ Da erfuhr ich erst, dass er die Flucht übers Haff mitgemacht hat. Er erzählte mir dann zum ersten Mal von den Dramen, die er dort erlebt hatte: Wie Familien sich verloren, Wagen im Eis einbrachen, Menschen ertranken, kleine Kinder starben, alle Hunger litten.“ Der Film bewegte eine Menge im Vater. Schmerzliche Erinnerungen und Hassgefühle auf die Polen und die Russen kamen anschließend in ihm hoch. „Natürlich weiß er, dass eigentlich Hitlerdeutschland die Schuld daran trägt, dass sich die Geschichte so entwickelt hat“, erklärt Sabine. „Als er dann aber so plötzlich mit seinen Erinnerungen konfrontiert wurde, ging doch die Objektivität flöten.“ Irgendwann will sich Sabine den Film auch anschauen, um besser nachvollziehen zu können, wovon der Vater erzählt. „Ein bisschen Angst habe ich aber schon davor“, meint sie. „Zu wissen, dass mein Vater das erlebt hat – das stelle ich mir belastend vor.“

    Die Belastung ihrer Eltern hat Sabine immer sehr genau spüren können. Zwar sprachen sie nicht unablässig von der alten Heimat, aber die traumatischen Kriegserlebnisse der Mutter und das eiserne Schweigen des Vaters signalisierten Sabine schon als Kind, dass die Eltern unter ihrer Vergangenheit litten.
    Wie mächtig die Erinnerungen der Eltern waren, wurde Sabine jedoch erst als junge Erwachsene bewusst, als die Eltern eine Reise in die alte Heimat unternahmen. „Für meine Mutter war es nicht ganz so schlimm, weil zumindest ihr altes Haus in Schlesiennoch stand und sie vieles wiedererkennen konnte. Sie hatte dort ja auch glückliche Zeiten erlebt und war froh, noch mal da gewesen zu sein“, berichtet Sabine. „Doch das Haus meines Vaters in Ostpreußen stand nicht mehr. Als er nichts wieder vorfand, was er noch in Erinnerung hatte, war er sehr geknickt – das war für ihn wie ein verlorener Ort. Wenn er heute von dieser Reise erzählt, fängt er fast an zu weinen. Und er weint nicht schnell.“

    Sabines Eltern setzten alles daran, in Beckum heimisch zu werden. Der Vater arbeitete seine ganze Berufstätigkeit hindurch sechs Tage die Woche, damit die Familie sich ein schönes Haus bauen konnte – nicht etwa in der örtlichen Friedland-Siedlung für Vertriebene, sondern in einem Alt-Beckumer Gebiet. Sabines Eltern wollten keine Flüchtlinge – sie wollten Beckumer sein. Dieser Ort sollte ihre neue Heimat werden.
    Über Jahrzehnte wurde jeder Taler umgedreht, damit der Traum von Eigenheim verwirklicht werden konnte. Vor allem der Mutter sei es wichtig gewesen, ein eigenes Haus zu haben, meint Sabine: „Sie hatte immer das Gefühl, sich einen Platz im Leben schaffen zu müssen, eine Lücke schließen zu müssen. Etwas, das sie verloren hat, durch eigene Aktivität wieder herzustellen.“ Es war ihr ein Bedürfnis, ihre Verlusterfahrungen zu überwinden, indem sie sich neu verwurzelte – sicher in der Hoffnung, dann endlich zur Ruhe kommen zu können.
    Doch dieses Vorhaben wollte nicht gelingen: Auch der äußere sichere Rahmen konnte den inneren Verlust nicht kompensieren. Trotz des unbedingten Willens, sesshaft zu werden, fühlten sich die Eltern in Beckum nie zugehörig. Bis heute haben sie nur wenig soziale Kontakte im Ort. Irgendwie sind sie Fremde geblieben. „Meine Mutter sagt immer zu mir: ‚Beckum ist unser Zuhause, weil wir euch dort großgezogen haben. Aber es ist nicht Heimat’“, berichtet Sabine. Auch sie selbst habe dieser Gedanke geprägt: „Ich hatte schon als Kind das Gefühl, ich gehöre eigentlich in die Friedland-Siedlung. Ich fühlte mich immer anders alsmeine Beckumer Freundinnen, deren Großeltern schon dort geboren waren und während des Krieges keine großartigen Dramen erlebt hatten.“ Trotz

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