Wir Kinder der Kriegskinder
Klinik zu gehen. Doch sie hat Schwierigkeiten, sich um sich selbst zu kümmern. Sie sagt immer ‚Da kann mir ja doch keiner helfen‘.“
Über die körperlichen Schmerzen der Mutter finden sicher auch die schwierigen Erfahrungen der Großeltern ihren Ausdruck. Agnes Mutter war emotional vernachlässigt worden und hatte womöglich von klein an nicht gelernt, ihr Leiden zu benennen und sich dessen bewusst zu werden. Da blieb nur der Ausweg in den Schmerz. Doch obwohl sie ganz offensichtlich bedürftig ist, kann die Mutter keine Hilfe annehmen – sie fürchtet sowohl die Autonomie als auch sich auf Neues einzulassen – seien es nun Menschen oder neue Wege. Ihre Mutter, Agnes Großmutter hingegen, versteht bis heute nicht, warum die Tochter nicht glücklich ist – schließlich hat sie überlebt: „Meine Oma kann sich überhaupt nicht vorstellen, dass meine Mutter psychisch belastet sein soll“, erklärt Agnes. „Bei ihr stößt dieser Gedanke auf völliges Unverständnis.“
Agnes empfand dieses Umfeld von klein auf als schwierig. „Mir fehlte irgendwie immer das Gefühl: Da gibt es ein Elternhaus, dahin kann ich zurückkommen“, erklärt sie. Es gab zu viel Trauer, zu viel Abhängigkeit, zu wenig Autonomie, zu wenig Lebensfreude: Die Mutter war selbst zu kurz gekommen, die Großmutter „streng und autoritär“, der Großvater verschlossen. Niemand konnte Agnes in dieser Familie vorleben, wie man ein eigenständiges Leben führt. Ein Gefühl von Stabilität und Vertrauen in ihre Selbstständigkeit wurde ihr kaum vermittelt – wie auch, angesichts der vielen familiären Verlusterfahrungen, die nur in der Symbiose zu bewältigen zu sein schienen?
Wie diese grundlegende Lebensverunsicherung sich auch auf Agnes übertrug, zeigt sich in ihrem persönlichen Werdegang. Obwohl sie sich wünschte, hinaus in die Welt zu ziehen, konnte sie sich weder von ihrer Familie noch von ihrem Geburtsort lösen, zu dem sie sich als Kind einer Flüchtlingsfamilie jedoch gleichzeitig nie wirklich zugehörig gefühlt hatte. „Ich hatte immer große Schwierigkeiten, von hier wegzugehen, aus der Angst heraus, die Heimat oder die Bodenhaftung zu verlieren“, erklärtsie. „Ich dachte immer: Wenn ich das hier hinter mir lasse, dann verliere ich alles, was ich habe.“
Nach dem Abitur hatte Agnes den Wunsch, Lehrerin zu werden und zog nach Tübingen, um dort auf Lehramt zu studieren. Nach nur zwei Jahren brach sie das Studium ab, um nach Ulm zurückzukehren und dort ein journalistisches Volontariat bei einem lokalen Zeitungsverlag aufzunehmen. Auch später versuchte Agnes immer wieder, aus Ulm und dem Lokaljournalismus herauszuwachsen, doch auch bei weiteren Anläufen gelang ihr der Absprung nicht. Sogar, als sich nach einem Praktikum bei einer Frauenzeitschrift in Hamburg die Möglichkeit einer festfreien Mitarbeit ergab, konnte sie das verlockende Angebot nicht annehmen. „Mir gefiel die Art des Schreibens super, aber ich traute mich nicht, einfach nach Hamburg zu gehen und zu sagen: Hier bin ich, hier schlage ich mich alleine durch“, erklärt sie. „Leider habe ich mich nie so frei gefühlt, mal hier, mal dort leben zu können. Und jetzt ist es vorbei mit dieser Karriereoption.“ Mit Job und Familie hat Agnes sich nun an Ulm gebunden.
Agnes Gefühl der Heimatlosigkeit, das Gefühl nirgendwo geborgen zu sein, ist mit Sicherheit ein Erbe der Vertreibungs-, Verlust- und Fluchterfahrungen der Großeltern. Schon seit längerem setzt sie sich mit diesem Erbe intensiv auseinander: Sie geht stellvertretend der Familiengeschichte nach, wie es so viele andere Kinder von Kriegskindern auch tun. Vor allem die Gespräche mit ihrem Ehemann, einem spät geborenen Sohn von Eltern aus der Generation von Agnes Großeltern, helfen dabei. „Wir haben in der Familie ähnliche Erfahrungen von Flucht und Vertreibung gemacht“, erklärt Agnes. „Es ist schon interessant, wie sich das zusammenfügt.“
Einerseits ist es für Agnes wichtig, das eigene Leiden zu verstehen, andererseits möchte sie nicht dem Zwang zur Wiederholung erliegen. Fast wäre dies allerdings geschehen: Auch sie wurde mit 19 ungewollt schwanger von einem Mann, der wie ihrVater kein Interesse daran hatte, eine Familie zu gründen. Agnes entschloss sich jedoch, abzutreiben.
„Wenn ich das Kind bekommen hätte, hätte ich das allein machen müssen. Und dann hätte ich womöglich dieselbe Situation erlebt wie meine eigene Mutter“, reflektiert sie. „Ich hätte mich in
Weitere Kostenlose Bücher