Wir Kinder der Kriegskinder
unmittelbar nach dem Krieg waren die meisten Deutschen nicht willens und möglicherweise auch nicht in der Lage, sich mit der Schuld Deutschlands auseinanderzusetzen. Die Nazis, das waren und blieben die anderen: Hitler, Göring, Goebbels, Himmler, Eichmann. Über den Holocaust wurde allenfalls hinter vorgehaltener Hand gesprochen. Das erschreckende Defizit an Trauerarbeit der deutschen Bevölkerung war neben einem unbewussten Schuldgefühl wohl in Teilen auch der Sorge um die eigene Existenz in den schwierigen Nachkriegsjahren geschuldet. Wohnungen waren Mangelware, Lebensmittelrationen knapper als zu Kriegszeiten, Hunger, Kälte, Krankheiten an der Tagesordnung. Vor allem die Vertriebenen sahen sich, kaum in den einzelnen Besatzungszonen Deutschlands angekommen, mit einer Vielzahl neuer Probleme konfrontiert: Wohnraum, Hausrat, Kleidung, Wäsche mussten beschafft werden, meist auf dem Schwarzmarkt. Viele Menschen wohnten über Jahre hinweg in Notquartieren. Noch im Oktober 1946 lebten in Bayern 146.000 Flüchtlinge in Massenunterkünften, unter fürchterlichen Bedingungen. Erleichterung verschafften lediglich die 600.000 Care-Pakete, die noch 1947 monatlich aus den USA ins hungernde Deutschland geschickt wurden.
Erst mit der Währungsreform wurde das viel beschworene „Wirtschaftswunder“ eingeläutet: Als am 20. / 21. Juni 1948 die Deutsche Mark die wertlos gewordene Reichsmark ersetzte, füllten sich schließlich die Geschäfte mit den Waren, die vorher nur auf dem Schwarzmarkt erhältlich gewesen waren. Doch auch die langsam fortschreitende Verbesserung der Lebensumstände der Deutschen führte nicht zu einer intensiveren Beschäftigungmit den Verbrechen der Nationalsozialisten, wie der „Song vom Wirtschaftswunder“ des Kabarettisten Günter Neumann belegte: „Jetzt kommt das Wirtschaftswunder / Jetzt kommt das Wirtschaftswunder / Die Läden offenbaren / Uns wieder Luxuswaren / Die ersten Nazis schreiben fleißig / Ihre Memoiren / Denn den Verlegern fehlt es an Kritik / Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg.“
Für die Kriegskinder saß das Trauma der vielen Verluste, Entbehrungen und Mangelerfahrungen tief. Noch Ende 1947 hatten einer Umfrage zufolge von 110.000 Schulkindern in Fürth gut 60 Prozent keine festen Schuhe, 40 Prozent keine Winterkleidung und 35 Prozent teilten ihr Bett mit ein oder zwei Geschwistern. In Mannheim gaben 70 Prozent der Kinder an, dass die Eltern nichts zum Heizen hätten; 12 Prozent von ihnen litten an Hungerödemen. Auch die Möglichkeiten zur Schul-, Aus- und Weiterbildung waren in den Nachkriegsjahren stark eingeschränkt: 1952 fehlte trotz siebenjährigen Wiederaufbaus noch ein Viertel des Schulbestands von 1939, Lehrer gab es viel zu wenige und auch Lehrmittel waren knapp.
Dennoch zeigten die meisten Jugendlichen in den Jahren nach dem Krieg eine sehr große Bereitschaft zum gesellschaftlichen Aufstieg. Die Mehrzahl der jungen Menschen wollte rasch erwachsen werden, um auf diese Weise Anschluss ans Wirtschaftswunder zu erhalten – wie der Kulturwissenschaftler Hermann Glaser in seinem Buch Kleine deutsche Kulturgeschichte von 1945 bis heute so treffend beschreibt: „Die in Kriegs- und Nachkriegszeit erfahrene Not und Gefährdung der eigenen Familie durch Flucht, Ausbombung, Deklassierung, Besitzverlust, Wohnungsschwierigkeiten, Schuld- und Ausbildungsmängel oder gar durch den Verlust der Eltern bzw. eines Elternteils hatten einen starken Realitätssinn hervorgerufen. Die überwältigende Mehrheit der Jugend erfüllte mit Emsigkeit und Fleiß die ihnen zugewiesene Rolle, nämlich als angepasste Akteure einer nivelliertenMittelstandsgesellschaft zu fungieren, der materieller Fortschritt viel, Trauerarbeit über die Zeit des Nationalsozialismus wenig bedeutete. Die Anpassung an die herrschenden Normen war aber – und das unterschied diese Jugendjahre von früheren Zeiten – weniger das Ergebnis autoritären Zwangs, als Folge der Erfahrung in der desolaten Trümmerzeit.“
Jahrzehntelang waren viele Kriegskinder mühsam damit beschäftigt, sich wieder eine Existenz aufzubauen. Dabei galt oft die Parole: Fleißig und sparsam sein und nur nicht auffallen. Die 1950er, 1960er und bisweilen auch noch die frühen 1970er Jahre waren dominiert vom Wiederaufbaugedanken: Häuser mussten gebaut, Wohnungen gekauft, Autos bezahlt, Familien gegründet und Kühlschränke gefüllt werden – alles Bollwerke gegen die bedrohlichen Verlust- und Mangelerfahrungen aus der
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