Wir Kinder der Kriegskinder
Jahren. Für das kleine Land war es eine unsägliche Kraftanstrengung, all diesen Flüchtlingen Unterschlupf zu gewähren und Nahrung zukommen zu lassen. Nach dem Selbstmord Hitlers am 30. April 1945 und der Befreiung Dänemarks fünf Tage später bemühte sich die dänische Regierung, die deutschen Flüchtlinge im Tausch gegen in Deutschland inhaftierte Dänen freizulassen. Doch die kurzlebige nationalsozialistische Regierung unter Hitlers Nachfolger Großadmiral Dönitz weigerte sich, auf das Angebot einzugehen. Die deutschen Flüchtlinge verblieben in Dänemark und die dänische Regierung zog Konsequenzen: Umgehend wurden die Flüchtlinge in mit Stacheldraht umzäunten Lagern inhaftiert, die sie nicht mehr verlassen durften. Sie lebten von staatlich zugeteilten Essensrationen. Obwohl die Deutschen in einigen Lagern angemessen versorgt wurden, starben 1945 insgesamt 11.000 deutsche Flüchtlinge in dänischen Lagern an Unterernährung und Krankheiten, darunter 8.000 Kinder. Oft dauerte es drei oder vier Jahre, bis die Flüchtlinge wieder freikamen.
Auch die Familie von Andreas Vater war drei Jahre lang in einem dänischen Lager inhaftiert. Der Vater erzählt bis heute von dieser Zeit – von Hunger, Krankheiten, mangelhaften hygienischen Verhältnissen, Perspektivlosigkeit. „Die Zeit im Lager hat mein Vater nie wirklich verarbeitet“, berichtet Andreas. „Wie auf einem Tablett trägt er dieses Trauma noch heute vor sich her. Er war erst elf, als er ins Lager kam, mit 14 kam er da raus. Das ist ja eineunheimlich wichtige Zeit für einen Jugendlichen. Doch für ihn ging es die ganzen Jahre nur darum, am Leben zu bleiben.“ Entwicklung, Schulbildung, die schwierige Identitätsfindung der Pubertät – all das konnte kaum stattfinden.
Nachdem die Familie 1948 freigelassen wurde, ließ sie sich in Detmold nieder. Doch das Trauma von Not, Hunger und Ohnmacht saß tief: Auch hier ging es weiterhin ums Überleben, schließlich musste die Familie erst einmal ihre Grundbedürfnisse stillen, sich versorgen, Arbeit finden, eine Existenz aufbauen. Es war kaum Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, was man mit seinem jungen Leben anfangen wolle. Versäumte Entwicklung konnte nicht nachgeholt, die traumatischen Lagererfahrungen kaum bearbeitet werden.
Mit 16 begann der Vater eine Lehre als Einzelhandelskaufmann, brach diese aber ein Jahr später ab, um im Bergbau zu arbeiten, denn dort war mehr Geld zu verdienen. Von den 200 Mark, die er monatlich erhielt, schickte er 100 an Mutter und Vater. Nach ein paar Jahren in der Zeche erhielt der Vater einen etwas besser bezahlten Job als Wachmann in Frankfurt und landete schließlich in der Pfalz, wo er trotz abgebrochener Ausbildung eine kaufmännische Stelle bei einer Sparkasse angeboten bekam. Dort lernte er auch Andreas Mutter kennen, eine junge Frau aus Potsdam, deren Familie 1945 auf der Flucht von den Russen ebenfalls in einem Lager auf der Insel Fehmarn interniert worden war und später über Umwege in die Pfalz kam. Die beiden Flüchtlingskinder heirateten.
Andreas Eltern arbeiteten hart, um sich ihren kleinen Traum vom Leben in gesicherten Verhältnissen zu erfüllen. Neben seinem Sparkassenjob fuhr der Vater Taxi, die Mutter ging in einem Kaufhaus arbeiten. Bald konnten sie sich eine kleine Eigentumswohnung leisten, die aber schnell zu eng wurde: Als 1959 erst Andreas und wenige Jahre später seine Schwester geboren wurde, wünschten sich die Eltern ein Eigenheim mit Garten und kauften gleich das erste Haus, das sie besichtigten. Doch der stabileäußere Rahmen mit Job, Haus und Familie trug nicht dazu bei, den Eltern ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln.
Die Existenzangst, die in den frühen Jahren gelegt wurde, blieb stets ein Begleiter. Als die Kinder aus den Windeln waren, habe der Vater die Mutter gedrängt, wieder arbeiten zu gehen, um auch zum Lebensunterhalt beizutragen – erst halbtags, dann ganztags, erzählt Andreas. Seine Mutter war unglücklich darüber. „Zu Hause empfand ich die Atmosphäre immer als extrem angespannt“, berichtet er. „Vor allem meine Mutter war unglaublich schlecht gelaunt, wenn sie von der Arbeit kam. Sie setzte sich dann vor den Fernseher und trank Cognac. Mein Vater verzog sich für ein paar Stunden. Und dann gingen sie ins Bett und standen am nächsten Morgen wieder auf.“ Ein Gefühl von Leere und Erschöpfung herrschte vor. Um die Mutter zu entlasten, mussten Andreas und seine Schwester Verantwortung im Haushalt
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