Wir Kinder der Kriegskinder
Kindheit. Die persönliche Entwicklung oder überhaupt eine Exploration der eigenen Möglichkeiten und Interessen kam dabei häufig zu kurz. Auch die fehlenden Bildungschancen in den Nachkriegsjahren mögen dabei eine Rolle gespielt haben. Vor allem den älteren Kriegskindern saß die Angst vor weiteren Entbehrungen noch viel zu sehr im Nacken, als dass sie es hätten wagen können, sich zu fragen, welche Möglichkeiten das Leben noch für sie bereithielte. Die Stillung von Primärbedürfnissen und anschließende Sicherung eines bürgerlichen Lebensstils stand im Vordergrund.
Auch auf die Kinder der Kriegskinder wirkten die elterlichen Erfahrungen weiter, wie ich anhand der folgenden Geschichten zeigen möchte. Besonders das ausgeprägte Sicherheitsdenken der Eltern führte bei ihnen nicht selten zu innerpsychischen Konflikten. Meine Gesprächspartner berichten, dass sie den Lebensstil der Eltern als bedrückend und einengend erlebt und die Eltern trotz finanzieller Absicherung als stets unzufrieden empfunden hätten. Das allein auf Sicherheit ausgerichtete Leben machte viele Mütter und Väter offensichtlich weder angstfreier noch glücklicher – möglicherweise gab es im Leben der Eltern dochviele Anteile, die sich nicht Bahn brechen durften, abgewehrte Depressionen, die nicht sichtbar waren. Die Kinder spürten die Trauer- und Verlusterfahrungen hinter der bürgerlich-fleißigen Fassade der Eltern sehr genau und versuchten, sie auf unterschiedliche Art und Weise unbewusst aufzufangen. Vor allem aber erzählen meine Gesprächspartner, dass die Eltern ihnen nur wenig Orientierungshilfe in Bezug auf die eigene persönliche und berufliche Entwicklung hatten bieten können: Aufgrund der Kriegs- und Nachkriegsjahre war das Leben der Eltern so sehr von Angst und Mangelerfahrungen dominiert, dass sie ihren Kindern – so gut sie es auch mit ihnen meinten – kaum Anleitung zur persönlichen Entfaltung geben konnten. In den folgenden Geschichten geht es um die Auswirkungen, die diese Atmosphäre auf die Lebensgestaltung meiner Gesprächspartner hatte.
„Ich dachte immer, das steht mir eigentlich nicht zu.“
In Sicherheit zu leben und frei zu sein von der Angst vor Mangel – so könnte wohl das beherrschende Grundmotiv in Andreas Familie lauten. Nie wieder wollten seine Eltern die Not und Ohnmacht erleben, die sie als Kinder während der Flucht und anschließenden Internierung in Flüchtlingslagern hatten verspüren müssen.
Sie richteten sich deshalb von jungen Jahren an in einem Leben ein, das vor allem Sicherheit bieten sollte. Für Entwicklung blieb dabei allerdings nur wenig Platz: Schließlich hätte der Drang nach Selbstverwirklichung das Risiko mit sich gebracht, erneut materielle Entbehrungen zu erleben. Von der Außenwelt durfte deshalb nur möglichst wenig nach innen dringen, die fragile Balance der Eltern sollte nicht erschüttert werden. „Alles war sehr eng, aber in dieser Enge hatten sie sich eingerichtet“, erzählt ihr Sohn Andreas, 1959 geboren. Die zwar liebevolle, aber von großer Angst und Verunsicherung geprägte Familienatmosphäre wirkte sich auch auf ihn aus. Weder Mutter noch Vater konnten ihm aufgrund der eigenen Kriegskinderfahrungen genügend Selbstvertrauen und Orientierung mit auf den Weg geben. Auch die Werte von Bildung oder beruflicher Entwicklung konnten die Eltern dem heute freiberuflichen Grafiker nicht vermitteln. „Ich habe von meinen Eltern vor allem Angst, Barrieren und ein großes Minderwertigkeitsgefühl mitbekommen“, erzählt Andreas. „Sie haben mir nie gesagt: ‚Das Leben ist so und so.‘ Sie haben mir immer vermittelt: ‚Wir wissen es selber nicht, du musst es herausfinden.‘ “
Andreas Vater wurde 1934 in Königsberg, Kaliningrad, geboren. Bis auf die letzten Kriegsjahre verlebte er dort wohl eine weitgehend positive Kindheit. Noch heute sei der Vater geradezu besessen von seinen Kindheitserinnerungen an Königsberg,berichtet Andreas. Kurz vor Kriegsende – der Vater war damals elf Jahre alt – floh die Familie vor der sowjetischen Armee gen Westen. Von der Flucht an sich weiß Andreas nichts, darüber wollte der Vater nie sprechen. Sicher ist jedoch, dass die Familie in den letzten Kriegsmonaten im besetzten Dänemark landete, möglicherweise war sie mit einem der letzten Schiffe über die Ostsee dorthin gelangt. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich bereits ungefähr 250.000 heimatlose deutsche Flüchtlinge in Dänemark, ein Drittel davon Kinder unter 15
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