Wir Kinder der Kriegskinder
übernehmen: Wäsche waschen, putzen, einkaufen. „Da schwang auch immer ein starkes Schuldgefühl mit“, erklärt Andreas. „Ich hatte den Eindruck, für meine Eltern verantwortlich zu sein, dafür sorgen zu müssen, dass meine Mutter gute Laune hat.“
Andreas führt die bedrückende Grundstimmung zu Hause auf die großen Verlust- und Mangelerfahrungen der Eltern in der Kriegs- und Nachkriegszeit zurück. Und auf die Tatsache, dass keiner von beiden je frei war, zu schauen, was sie aus ihrem Leben hätten machen wollen. Der Alltag der Eltern war mehr der Angstabwehr als der Frage nach persönlicher Erfüllung gewidmet. Urlaube, Museumsbesuche, Konzertbesuche, das gab es alles nicht. „Sie strahlten eine immense Existenz- und Verarmungsangst aus“, erzählt Andreas. „Aber reflektieren konnten sie das nie. Man kann sich mit ihnen noch heute nicht auseinandersetzen.“
Aufgrund der eigenen Lebenserfahrung konnten Andreas’ Eltern ihrem heranwachsenden Sohn kaum Orientierungshilfe bieten. Doch gerade als Jugendlicher und junger Erwachsener hätte ersich mehr Anleitung oder zumindest eine gemeinsame Auseinandersetzung über seine Zukunftspläne gewünscht.
Doch von Vater und Mutter kam nichts: Als Andreas sein Abitur bestanden hatte, waren die Eltern erleichtert, endlich aus der Verantwortung entlassen worden zu sein. „Sie haben vielleicht einmal zu mir gesagt: ‚Mach doch ’ne Ausbildung‘. Aber dann war es auch gut“, berichtet Andreas. „Vermutlich hatten sie selbst so früh Verantwortung übernehmen müssen, dass sie keine Lust mehr hatten, auch noch über die Schule hinaus für ihre Kinder zu sorgen. Das scheint mir bei dieser Generation oft so gewesen zu sein, zumindest bei Leuten mit einem ähnlichen Hintergrund wie meine Eltern. Sie hatten ja ganz andere Erfahrungen gemacht und auch ohne Ausbildung ein solides Leben führen können.“ Die Eltern hatten weder die Möglichkeiten noch sahen sie die Notwendigkeit, ihren Sohn in seiner beruflichen Orientierung zu unterstützen. Schließlich hatten sie sich ja selbst auch irgendwie durchgeschlagen.
Nach dem Abitur zog Andreas nach Worms, um in einem Krankenhaus seinen Zivildienst anzutreten. In der Klinik fielen ihm die vielen Bilder an den Wänden auf: Picasso, Chagall, Franz Marc. Der Wunsch, auch künstlerisch tätig zu werden, reifte in ihm heran. „Ich spürte, dass es da noch etwas anderes im Leben gab“, erklärt er. „Die Kreativität war für mich ein Ausweg aus der familiären Enge.“ Andreas begann zu malen, fing absolut bei null an. Das Einzige, was er über Kunst wusste, hatte er in der Schule aufgeschnappt – in der kleinen Welt seiner Eltern gab es kein Interesse dafür.
Andreas blieb in Worms, bis er 26 war. Er jobbte und bemühte sich, an einer Kunsthochschule angenommen zu werden. Kontakt zu Leuten, die ihm dabei hätten weiterhelfen können – Professoren, Studenten, andere Künstler – mied er. Ihn hemmten Minderwertigkeitskomplexe und das Gefühl, nicht wirklich in die Kunstwelt zu gehören. Selbst Chancen vermochte er nicht wahrzunehmen. Als ein renommierter Künstler ihm etwavorschlug, in sein Atelier in Krefeld einzuziehen, konnte Andreas nicht darauf eingehen. „Das wäre eine Chance gewesen, aber ich habe mich nicht wieder bei ihm gemeldet“, erinnert sich Andreas. „Ich habe mich nicht getraut. Und nach zwei Wochen war die Barriere schon wieder so hoch, dass ich glaubte, der hat das nie ernst gemeint.“
Die liebevolle, aber auch angstbesetzte Grundstimmung des Elternhauses hemmte Andreas berufliche Entwicklung. Seine Schwierigkeiten, sich bietende Möglichkeiten wahrzunehmen, waren unterschwellig womöglich auch von Schuldgefühlen diktiert: Von dem unbewussten Wunsch, nicht erfolgreicher als die Eltern sein zu wollen, deren fragiles Selbstwertgefühl von den Flucht- und Lagererfahrungen und den Nachkriegsjahren stark beeinträchtigt war. Wie sehr der Vater unter den eigenen Minderwertigkeitsgefühlen litt, hat Andreas oft erleben können. „Ich weiß noch, wie er irgendwann kurz vor Weihnachten in der Küche saß und lamentierte: ‚Ich bin nicht gut genug für dich, ich bin nicht gut genug für dich‘ “, erzählt Andreas. „Und ich stand da und habe geheult. Ich wollte gar nicht hören, dass ich etwas Besseres als mein Vater sei. Man liebt seinen Vater ja.“
Aufgrund der eigenen Mangelerfahrungen und der daraus resultierenden Unterlegenheitsgefühle war das Thema Bildung in Andreas Familie negativ
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