Wir Kinder der Kriegskinder
Rebellenstatus gepflegt.“
Lena ist 1968 geboren und lebt als Künstlerin in Berlin. Die knapp 40-Jährige legt großen Wert auf Autonomie, sowohl beruflich als auch privat. Für die Recherche zu ihren künstlerischen Projektarbeiten ist sie oft monatelang auf Reisen, auch in Ländern, deren politische Situation durchaus instabil ist. Nicht immer weiß sie, inwieweit ein Projekt sich lohnen wird: Manchmal muss Lena ihre Reisekosten selbst vorschießen, in dem Vertrauen darauf, dass es ihr später schon irgendwie gelingen wird, ihre Kosten zu decken. Meist funktioniert dies auch – doch wie bei allen Freiberuflern ist ihr Einkommen häufigen Schwankungen ausgesetzt. Auch im Privatleben pocht Lena auf Unabhängigkeit. Sie hat zwar einen festen Partner, wohnt aber seit vielen Jahren allein. Ihre freie Lebensführung ist, so glaubt Lena, eine Reaktion auf die Geschichte ihrer Eltern.
Vater und Mutter sind Flüchtlingskinder, 1931 in Ostpreußen und 1933 in Schlesien geboren. „Die Ehe meiner Eltern ist eine einigermaßen funktionierende, aber fatale Kombination, weil das Leid so geballt ist“, erklärt Lena. „Noch heute haben meine Eltern Existenzängste ohne Ende. Ich bin mit einem enormen Sicherheitsdenken großgeworden.“ Lena lebt genau das Gegenteil: Im Gegensatz zu ihren beiden älteren Geschwistern pflegt sie bis heute den „Rebellenstatus“, wie sie es nennt. „Ich bin immer nur abgehauen, habe mich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, in irgendeiner Form das Sicherheitsdenken meiner Eltern zu übernehmen“, reflektiert sie. „Und das macht mir heute manchmal Probleme. So frei zu leben, wie ich es tue, ist manchmal auch ein Kampf. Da ist eine ständige Zerrissenheit.“
Über die Geschichte des Vaters weiß Lena nur wenig. 1931 in einem Dorf südlich von Königsberg (Kaliningrad) geboren, floh der Vater in den letzten Kriegsmonaten mit seiner Familie übersFrische Haff gen Westen. Wie Tausende andere Flüchtlinge aus Ostpreußen auch nahm die Familie den gefährlichen Weg über die knapp zehn Kilometer breite und zugefrorene Ostsee in Kauf, um zur Frischen Nehrung zu gelangen, einer Landzunge, von der aus der rettende Danziger Hafen zu erreichen war. Viele Flüchtlinge überlebten diesen Treck nicht – sie brachen im Eis ein, erfroren oder starben durch sowjetische Luftangriffe. Welche Erfahrungen ihr Vater auf der Flucht gemacht hat, kann Lena allerdings nicht sagen. „Darüber hat er nie gesprochen“, erzählt Lena. „Die Familie meines Vaters ist ohnehin sehr schweigsam, die reden nicht viel über Dinge, über Emotionen schon gar nicht.“
Von der Mutter weiß Lena mehr. Sie erzählte den Kindern oft von ihren Kriegserlebnissen. Zum Beispiel von dem Tag, als sie, 12-jährig, in ihrem schlesischen Heimatdorf dem fürchterlichen Tod der älteren Schwester beiwohnte. Die Familie hatte sich während eines Bombenangriffs auf dem Dachboden des Hauses versteckt, doch die 14-jährige Schwester saß zu nah am Fenster und wurde von einem Bombensplitter in den Kopf getroffen. Sie verblutete sofort, im Beisein ihrer Eltern und Geschwister. Kurz nach diesem schrecklichen Verlust entschloss sich die Familie zur Flucht. „Meine Mutter hat mir oft erzählt, wie meine Großmutter ihr sagte, sie solle sich mehrere Schichten Klamotten anziehen und eine Tasche packen. Ihre Puppe durfte sie auch mitnehmen, die gibt es heute noch“, erinnert Lena. „Von der Flucht selbst hat sie aber nichts erzählt. Die Berichte setzen erst wieder ein, als die Familie bei einer Bauernfamilie zwischen Osnabrück und Münster einquartiert wurde – bei Leuten, die keine Lust auf Flüchtlinge hatten und der Familie meiner Mutter das Leben wohl sehr schwer machten.“
Der traumatische Tod der Schwester, die Flucht, Entwurzelung und Ausgrenzung als Flüchtlingsfamilie – diese vielen belastenden Erlebnisse waren für die Mutter kaum zu bewältigen. Es gab wohl auch nicht den Raum dafür, denn die Anstrengung, sichim Münsterland eine neue Existenz aufzubauen, bedeutete, dass das junge Mädchen innerhalb der Familie sofort eine Menge Verantwortung übernehmen musste. „Als Jugendliche regelte meine Mutter zum Beispiel den Hauskauf ihrer Familie, weil die Großeltern beide arbeiten gehen mussten“, berichtet Lena. „Sie erzählt noch heute, dass sie sich davon massiv überfordert fühlte.“ Es blieb kaum Zeit, um versäumte Entwicklung nachzuholen, geschweige denn die schrecklichen Erlebnisse der vergangenen Jahre zu
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