Wir Kinder der Kriegskinder
reflektieren.
Die unbearbeiteten Erfahrungen hinterließen deutliche Spuren. Obwohl sie durchaus auch liebevoll war, konnte die Mutter nur schlecht mit Emotionen umgehen, erzählt Lena. Vor allem schmerzliche Gefühle wehrte die Mutter ab, indem sie sie stets rationalisierte: „Sie ist nie auf ein Gefühl von uns eingegangen, sondern hat alles immer nur mit Vernunft pariert.“ Wie so viele andere Flüchtlingskinder auch suchte Lenas Mutter den traumatischen Dreiklang von erlebter Ohnmacht, Heimatverlust und anschließender Ausgrenzung später durch ein Leben zu bannen, das vor allem Sicherheit und Stabilität bot. Nachdem die Eltern geheiratet hatten, sparten sie, bis sie sich erst eine kleine und dann eine größere Eigentumswohnung in Münster leisten konnten. Über Jahrzehnte wurde ein penibles Haushaltsbuch geführt, damit man sah, wo das Geld blieb. „Dieses ‚Werte schaffen‘, dieses ‚klein, klein, klein‘, das ist sicher eine Folge der Kriegserlebnisse meiner Eltern“, glaubt Lena. „Meine Geschwister und ich haben diese Ängste irgendwie vermittelt bekommen und verinnerlicht. Und die stehen größeren Plänen oft im Weg, verhindern vielleicht sogar, dass sie überhaupt aufkommen. Vor allem meine Mutter versuchte stets, uns vor zu vielen Herausforderungen zu bewahren, damit wir nicht die Überforderung fühlen mussten, die sie selbst früher verspürt hatte. Obwohl wir ja in einem ganz anderen Umfeld aufwuchsen und unsere Herausforderungen eigentlich gebraucht hätten.“
Lenas ältere Geschwister verinnerlichten den auf Sicherheit und Solidität beruhenden familiären Lebensentwurf. Beide leben heute in der Nähe der Eltern, haben sichere Jobs, führen stabile Beziehungen – und sind damit auch nicht unglücklich. Vor allem zur Schwester hat Lena eine sehr gute Beziehung. „Dass beide so solide sind, kommt aber ganz klar von den Sicherheitsbedürfnissen meiner Eltern“, reflektiert Lena. „Meine Schwester hätte streckenweise schon gern ein anderes Leben geführt. Sie sagt mir immer, dass sie die Sachen, die ich mache, toll findet, sich selbst aber niemals trauen würde, so zu leben. Aber letztendlich ist das ja auch egal, schließlich schaue ich ja nicht auf meine Geschwister und denke, die sind spießig.“ Auch Lena beneidet ihre Schwester manchmal um deren Lebensentwurf. Sie wohnt mit ihrem Partner auf einem alten Hof in der Nähe von Münster und führt ein „ruhiges, sicheres und gesetteltes Leben“, nach dem Lena sich manchmal sehnt.
Doch Lena ist einen anderen Weg gegangen. „Ich habe viel revolutionärer agiert und mich komplett ausgeklinkt“, erklärt sie. Nach dem Abitur reiste sie ein halbes Jahr allein mit dem Rucksack durch Asien. Anschließend zog sie für ein paar Jahre nach Chicago und studierte dort Kunst. Für die Eltern erschreckende Vorstellungen. „Meine Mutter fragte mich dauernd: ,Wie willst du denn das schaffen?‘ “, erzählt Lena. „Sie hatte ständig Angst, dass ich mich überfordere. Aber ich musste das machen, obwohl ich selbst dabei oft Angst empfand und Heimweh hatte. Das war alles Protest.“ Lena lebte den Gegenentwurf zum elterlichen Leben und tat das, was sonst in ihrer Familie niemand wollte: Sie pfiff auf Sicherheit und Sesshaftigkeit und zog hinaus in die Welt.
Doch man kann Lenas Ausbruch aus dem familiären System nicht nur als Reaktion auf die elterlichen Erfahrungen deuten, sondern auch als einen weiteren Versuch, das Trauma von Verlust, Flucht und Ohnmacht zu überwinden. Im Gegensatz zuihren Geschwistern bemühte sie sich nicht, die eigenen Ängste und die ihrer Eltern durch eine solide Lebensführung in Schach zu halten – vielmehr versuchte sie wohl, stellvertretend für Mutter und Vater die Erfahrung der Selbstwirksamkeit und Autonomie zu reklamieren und so die Anteile der Eltern auszuleben, die diese sich nicht auszuleben wagten. Es scheint fast, als wollte sie den Eltern durch ihre Reisen, Auslandsaufenthalte und unerschrockene Lebensgestaltung die Botschaft vermitteln: Ich habe eure schlimmen Erfahrungen wieder gutgemacht und euer Trauma überwunden.
Möglicherweise verletzte es Lena deshalb so, als die Mutter sich von ihren Errungenschaften und Unternehmungen nur wenig beeindruckt zeigte. „Manchmal hatte ich das Gefühl: Was muss ich denn noch machen, damit von ihr nicht immer nur Zweifel kommen, sondern auch mal eine Anerkennung nach dem Motto: Toll, wie du das schaffst!“, erinnert sich Lena. „Ich weiß schon, dass die
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