Wir Kinder der Kriegskinder
Über-Ich-gesteuert“ zu sein.
4. Kein Platz für Gefühle
Lernen, Ängste und Wünsche wahrzunehmen und darüber zu sprechen
„Meine Eltern und ich, wir kennen uns eigentlich kaum“ – das ist ein Satz, den ich im Zuge der Recherche zu diesem Buch immer wieder hörte. Ein Gefühl der Fremdheit scheint die Beziehung vieler 1955 bis 1975 Geborenen zu ihren Eltern, den Kriegskindern, zu charakterisieren.
Möglicherweise ist ein Grund dafür in der häufig beschriebenen Sprachlosigkeit zwischen Kindern und Eltern zu finden: Viele Gesprächspartner berichteten mir, dass es in ihren Familien nur wenig Raum für einen lebendigen Austausch – vor allem in Bezug auf emotionale Themen – gegeben habe. Die Kommunikation sei überwiegend von Alltagsthemen bestimmt gewesen, das Interesse am Innenleben der Kinder habe sich in Grenzen gehalten. Viele Kinder empfanden die Eltern schlichtweg als unerreichbar: Die Väter seien emotional abwesend gewesen, die Mütter mit der Organisation von Haushalt und Familie so beschäftigt, dass kein Raum für intensive Gespräche blieb. Auch Zuneigung sei eher verhalten vermittelt worden, weniger durch Worte und Zärtlichkeiten als durch kleine Geschenke oder die Zubereitung von Lieblingsmahlzeiten. Persönliche Probleme, Entwicklungskonflikte, psychische Krisen – das hätten die Kinder häufig mit sich selbst ausmachen müssen. Oder eben auch nicht.
„Im unbewussten Vergleich mit ihrer damaligen Situation erwarteten die Eltern offenbar, dass die Kinder – wiederum in familiärer Delegation – mit ihren Nöten selbst zurecht kämen und sie selbst möglichst wenig damit behelligt wurden“, schreibt der Psychiater, Psychoanalytiker und Altersforscher Hartmut Radebold in seinem Buch Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteterKindheiten. Die Kinder sollten funktionieren und möglichst leistungsfähig sein, um die Abwehr der Eltern nicht zu erschüttern. Dabei spielten, so Radebold, bisweilen auch die tief verinnerlichten Erziehungsideale des Nationalsozialismus eine Rolle, die Ängste, Schmerzen und Zärtlichkeiten als „Schwäche“ abwerteten.
Die emotionalen Defizite vieler Kriegskinder prägten auch die dritte Generation, die Kinder der Kriegskinder. Das ist kein Wunder: Schließlich lernen wir von unseren Bezugspersonen, die eigenen Emotionen zu spüren und zu deuten. „Es ist eine Fertigkeit, Gefühle wahrnehmen zu können“, erklärt der Psychiater Dr. Harald Gündel von der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover: „Um unseren Gefühlen oder Bedürfnissen einen Namen zu geben, bedarf es aufmerksamer Bezugspersonen, die uns als Babys oder Kindern erklären, was wir gerade spüren. Wenn aber in der Familie nie über Gefühle gesprochen wurde, weil immer nur hart gearbeitet und auf emotionale Themen wenig Wert gelegt wurde, dann können auch die Kinder in gewisser Hinsicht zu ‚emotionalen Analphabeten‘ werden. Wir können uns das ungefähr so vorstellen, als wenn jemand, der noch nie Wein getrunken hat, plötzlich über den Geschmack und die Qualität verschiedener Rebsorten urteilen soll. Er hat einfach keine Ahnung, kann die feinen Unterschiede seiner Sinneseindrücke nicht herausarbeiten.“
Um unsere Ängste, Sorgen, Wünsche und Bedürfnisse differenziert spüren und äußern zu können, müssen wir also eine langjährige emotionale Lernerfahrung durchlaufen, in der uns unsere Gefühle widergespiegelt werden. Viele Kriegskinder konnten ihren Kindern das „Fühlen“ nicht gut beibringen. Und das beschert den Kindern noch heute häufig Probleme – in Beziehungen, am Arbeitsplatz, mit sich selbst. In diesem Kapitel berichten meine Gesprächspartner, stellvertretend für viele andereKinder von Kriegskindern, wie sich die emotionale Sprachlosigkeit der von Krieg und Nationalsozialismus geprägten Eltern auf sie übertrug.
„Es fiel mir schwer zu sagen, wie es mir geht.“
Claudia ist Krankenschwester, wie zuvor bereits ihre Mutter und Tanten. Ihre Berufswahl bringt die 42-Jährige direkt in Verbindung mit dem ausgeprägten Sicherheitsdenken ihrer Eltern. „Meine Eltern haben mir so eine Panik eingetrichtert, dass ich überhaupt nicht auf den Gedanken kam, das zu machen, was ich gern gemacht hätte“, erinnert sich die Düsseldorferin. „Ich höre meinen Vater noch sagen: ‚Krankenschwester ist doch toll, denn Kranke gibt es immer.‘ Wenn ich gelernt hätte, auf meine Gefühle zu hören, hätte ich vermutlich
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