Wir Kinder der Kriegskinder
Kunst studiert.“ Doch im Umgang mit Gefühlen tat sich Claudias Familie schwer. Die Eltern, beide Kriegskinder, waren zwar fürsorglich, aber nur wenig mitfühlend. Schmerzliche Gefühle lernten sie aufgrund ihrer Kindheits- und Jugenderfahrungen in Kriegszeiten früh zu unterdrücken und konnten sich dementsprechend später nur schwer in die emotionalen Bedürfnisse ihrer Kinder einfühlen. Denn sich etwas tiefer auf Claudias Erlebniswelt oder die ihres Bruders einzulassen, hätte möglicherweise die eigene Abwehr, das eigene Verdrängte der Eltern erschüttert. „Die äußeren Umstände mussten stimmen, die Versorgung musste funktionieren, aber was einen sonst so innerlich beschäftigt, das musste man mit sich selbst ausmachen“, erklärt Claudia. Folglich fiel es auch ihr schwer, einen guten Zugang zu ihren Emotionen zu finden. Noch heute hat Claudia bisweilen Probleme, ihre Gefühle zu spüren und vor allem mitzuteilen. „Meine Eltern sind stumm geblieben“, erklärt Claudia. „Und das hat sich für mich sehr negativ ausgewirkt. Ich arbeite nun ganz hart daran, diese Sprachlosigkeit nicht weiterzugeben.“
Claudias Mutter ist 1930 in einem Dorf in Pommern geboren, als eines von sechs Kindern. Während des Krieges blieb sie mit der Mutter und zwei Schwestern im Dorf zurück – der Vater undzwei ältere Brüder waren eingezogen worden, die große Schwester arbeitete auf einem entfernten Gutshof als Hauswirtschaftslehrerin. Als sich Anfang 1945 die sowjetischen Armeen näherten, floh die Großmutter mit den drei Töchtern in ein Auffanglager für Flüchtlinge im Westen, in der vollen Gewissheit, bald wieder in ihr Dorf zurückkehren zu können. Nach ein paar Wochen – überzeugt, dass die Gefahr nun vorbei sei – trat die Großmutter mit den drei Töchtern tatsächlich unter abenteuerlichen Umständen die Heimreise in ihr pommersches Dorf an.
Dort angekommen, erlebte sie jedoch einen Schock: Im Haus wohnten nun andere Leute, das Hab und Gut der Familie war im ganzen Dorf verteilt. Der Großmutter und den Töchtern blieb nichts anderes übrig, als zurück ins Lager zu gehen. Nach diversen Umwegen landeten sie schließlich in Paderborn, wo die Familie bei freundlichen Leuten unterkam und Ende 1945 mit dem Großvater und der älteren Schwester wiedervereint wurde. Die Brüder waren beide im Krieg gefallen.
„Meine Mutter selbst hat den Heimatverlust, die Flucht und vielen Verlusterfahrungen stets als nicht besonders dramatisch dargestellt, im Gegensatz zu ihren Schwestern“, erzählt Claudia. „Sie hat immer ganz nüchtern von früher erzählt, so in etwa: So sah unser Haus aus, hier stand der Schrank, da gingen wir einkaufen.“ Erst jetzt, mit 77 Jahren, beginnt sie, etwas emotionaler über ihre Kindheitserlebnisse zu reden. Dass es schlimm war, die Heimat zu verlieren, dass sie große Angst hatte ... sie bringt das erst jetzt zur Sprache.“
Wenn die Mutter von ihren belastenden Kindheits- und Jugenderfahrungen berichtete, waren ihre Gefühle wie abgespalten – so bewahrte sie sich wohl vor schmerzlichen Erinnerungen. Dieser Schutzmechanismus durchzog ihr Leben und war sicher auch in den Mangelerfahrungen ihrer Kindheit und Jugend begründet. Als mittleres von sechs Geschwistern hatte sie selbst nur wenig Zuwendung von der Großmutter erhalten, die überdies in den Kriegsjahren angesichts der verschollenen dreiKinder und des Ehemanns enorme Ängste ausgestanden haben muss. „Meine Mutter sagte stets, dass sie als mittleres Kind nur wenig Aufmerksamkeit bekam. Vor allem das älteste und das jüngste Kind waren wichtig, die dazwischen zählten nicht so“, berichtet Claudia. „Diese Botschaft hat sie auch mir mitgegeben: ‚Nimm dich nicht so wichtig, es geht hier nicht um dich.‘ Das war sehr frustrierend.“
Auch der Vater, 1936 in Berlin als ältestes von drei Kindern geboren, hatte im Krieg viel durchmachen müssen: Sein eigener Vater, Claudias Großvater, hatte sich aufgrund massiver Eheprobleme in den letzten Kriegsjahren freiwillig an die Front gemeldet und war kurz darauf gefallen, berichtet Claudia. Sein damals erst achtjähriger Sohn verkraftete den Tod des Vaters nur schwer: Er reagierte mit starkem Asthma und Neurodermitis. Dennoch fiel es bald ihm zu, die Rolle des Ältesten zu übernehmen und sich um die kleineren Geschwister zu kümmern – zumal sich die Großmutter wenig später „einen neuen Mann ins Haus holte“, der jedoch offenbar selbst Versorgung einforderte statt im
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