Wir Kinder der Kriegskinder
die sich später nur mühevoll wieder öffnen ließen. Die Eltern vermittelten Katja stets das diffuse Gefühl, sie solle etwas Bodenständiges machen und Geld verdienen. „Bei uns war Solidität angesagt“, berichtet Katja. Das Trauma des Heimatverlusts, die Angst vor Not und Armut saß Vater und Mutter vermutlich noch im Nacken. Schon der Weg zum Abitur war für Katja nicht selbstverständlich: Obwohl sie eine Empfehlung fürs Gymnasium bekam, beschlossen die Eltern, ihre Tochter auf die Realschule zu geben. Katja protestierte nicht. „Meine Eltern kamen gar nicht auf die Idee, dass ich aufs Gymnasium gehen könnte. Wozu studieren? Sie hatten ja selbst auch nicht die Gelegenheit gehabt, eine Ausbildung zu machen“, erzählt Katja. „Als ich dann später auf Druck der Lehrer doch aufs Gymnasium wechselte, merkte ich, was ich eigentlich vermisst hatte. Ich wurde mit Leuten konfrontiert, die einen ganz anderen Zugang zu Bildung und eine ganz andere Art zu lernen hatten. Das sprach mich alles viel mehr an.“
Obwohl die Eltern Katja durchaus liebevoll zugetan waren, konnten sie ihrer Tochter nach dem Abitur nur wenige Möglichkeiten aufzeigen – sie selbst hatten diese Wahl schließlich nie gehabt. Katja entschloss sich zu studieren, wusste aber überhaupt nicht, was. In Hamburg nahm sie schließlich ein Studium der Sinologie und Politologie auf. Und brach es wieder ab. Anschließend meldete sie sich auf einer Schauspielschule an, um Fernseh- und Theaterwissenschaften zu studieren. Und war sich noch immer unsicher, ob diese Entscheidung die richtige wäre. „Ich war sehr auf der Suche“, erklärt sie. „Wirklich frei in meinen Entscheidungen fühlte ich mich nicht.“ Umso erstaunter war Katja, dass ihre Eltern sie trotz der eigenen Geschichte bei ihrer Suche nicht kritisierten und ihr stets Geduld entgegenbrachten.
Ein Gespräch mit einem Arzt half Katja damals weiter. „Er erzählte mir, dass bei ihm zu Hause überhaupt nicht die Frage aufgekommen wäre, ob er studieren solle. Die Frage war vielmehr, was er studieren solle: Wenn er es sich leicht machen wolle, Medizin, und wenn er es sich schwer machen wolle, Jura. Der Zugang zur Bildung war bei ihm ein ganz anderer als der, den ich von Haus aus hatte“, erklärt sie. Diese Voraussetzungen brachte Katja nicht mit – als Flüchtlingskind ohne akademischen Hintergrund wusste sie nicht, ob sie es sich überhaupt herausnehmen durfte, eine Universität zu besuchen. „Ich bin nicht mit dieser Selbstverständlichkeit, mir etwas nehmen zu dürfen, groß geworden. Die musste ich mir erst erarbeiten“, reflektiert Katja heute. „Ein Kind von Flüchtlingen zu sein heißt eben auch, bestimmte Dinge nicht selbstverständlich zur Verfügung zu haben – nicht zu wissen, wo man Platz nehmen darf. Damit waren auch meine Eltern stets konfrontiert: Wenn man es genau betrachtet, hatten sie keine Freunde, die alteingesessene Herner waren.“
Heute ist Katja beruflich etabliert und hat ihr mangelndes Selbstvertrauen längst überwinden können. Die Folgen der elterlichen Vertreibungserfahrungen spürt sie jedoch noch immer: Auch inHamburg, wo sie seit gut 20 Jahren lebt, fühlt sie sich noch nicht richtig angekommen, obwohl sie dort viele soziale Kontakte hat. Katja bindet sich nur ungern, weder an Orte noch an materielle Dinge wie Möbel. Sie möchte stets in der Lage sein, weiterziehen zu können. Lange Zeit war es für Katja auch nicht möglich, eine feste Beziehung zu führen – heute wünscht sie sich das. „Für mich heißt ankommen vermutlich: Bei jemandem ankommen“, reflektiert sie. „Ich habe mich immer schwer auf Beziehungen einlassen können, gerade mit der Bulimie war ich viele Jahre ziemlich verkorkst. Ich suchte mir immer Partner, bei denen es irgendein ‚Aber‘ gab. Jetzt erst merke ich eine Bereitschaft, eine ernsthafte Partnerschaft zu führen. Aber mit 41 Jahren ist das ja auch nicht übertrieben früh.“
Die Identifizierung mit den Ängsten und dem Leid der Eltern mag Katja in vielerlei Hinsicht gebremst haben. Sicherlich erschwerten sie ihr den Zugang zur Bildung: Die vielen Entfaltungsmöglichkeiten, die Katja zur Verfügung standen, gab es für die Eltern in den entbehrungsreichen Kriegs- und Nachkriegsjahren nicht. Doch letztendlich konnte Katja sie trotzdem wahrnehmen und sich größtenteils aus den Verstrickungen in ihre familiäre Geschichte befreien – auch wenn sie noch heute manchmal darunter leidet, „viel zu
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