Wir Kinder der Kriegskinder
mir erzählt, wie sie nach Kriegsende lebten“, erinnert sich Katja. „Mit ihren Eltern wohnte sie in einem Haus, das nur drei Wände hatte. Zu essen gab es kaum etwas: Oft rührten sie Anfang der Woche eine Tütensuppe an, die dann bis zum Ende der Woche gestreckt werden musste.“
In Herne lernte Katjas Mutter 1951 den Vater kennen. Auch er ist ein Flüchtlingskind aus dem Osten: 1928 bei Lodz in Polen geboren, stammt er aus einer wohlhabenden alten deutschen Siedlerfamilie. Der Großvater war Dorfbürgermeister gewesen und wurde, so erzählt Katja, kurz vor Kriegsende im Gefängnis von Lodz zu Tode gefoltert. Auch Katjas Vater überlebte den Krieg nur mit Glück. Anfang 1945 zog die Wehrmacht den 17-Jährigen in eine „Kanonenfutter“-Kompanie ein, die Berlin verteidigen sollte. Doch einer seiner Vorgesetzten setzte sich für den Jungen ein, und so wurde er aus seiner Einheit abgezogen und als Funker in die Hauptstadt geschickt. Damit entging er der Schlacht um die Seelower Höhen zwischen Wehrmacht und Roter Armee vor den Toren von Berlin, die insgesamt mehr als 100.000 sowjetische und deutsche Soldaten das Leben kostete. Nach diversen Umwegen landete Katjas Vater dann in Herne, wo er als Laufbursche bei der Royal Air Force anfing und sich über die Jahre die Rangleiter hocharbeitete. Die Eltern heirateten 1953. Vier Jahre später wurde Katjas ältere Schwester geboren, 1966 dann Katja.„Schon als Kind merkte ich, dass wir anders sind“, erzählt Katja. Wie in so vielen Flüchtlingsfamilien kamen weder die Eltern, noch die Kinder richtig in der neuen Heimat an. Katja hatte stets das Gefühl, „keine waschechte Hernerin zu sein“. Das lag vielleicht zum Teil daran, dass die Vergangenheit mit allen Mitteln lebendig gehalten wurde: Der Vater war viele Jahre lang Landessozialreferent eines Vertriebenenverbandes und kümmerte sich um Lastenausgleichsanträge seiner Landsleute; die Töchter verbrachten ihre Freizeit bei der „Deutschen Jugend des Ostens“, einer Organisation für Kinder und Jugendliche aus den ehemaligen Ost- und Siedlungsgebieten, die sich der Pflege der Kultur, Sprache und Gebräuche der Herkunftsgebiete widmete. Zu Hause gab es oft Streit über die Frage, inwieweit man es überhaupt wagen konnte, sich in Herne niederzulassen. Die Mutter wollte ein Haus kaufen – der Vater nicht. „Meine Mutter wollte sich mit etwas identifizieren und fühlte sich in unserer kleinen Wohnung nie heimisch“, erzählt Katja. „Aber mein Vater, der alles verloren hatte, sagte immer: ‚Ich will nicht 30 Jahre für etwas zahlen, was mir hinterher wieder weggenommen werden kann.‘ Nach einem Besuch von Freunden saß meine Mutter dann immer weinend in der Ecke. Dieser Konflikt meiner Eltern hat mich ein Leben lang begleitet.“
Katja hatte als Kind stets das Gefühl, zwischen den Eltern vermitteln zu müssen. Sie spürte die Verlust- und Mangelerfahrungen von Mutter und Vater sehr deutlich und glaubte, sie trösten zu müssen. Vor allem die Mutter litt, so glaubt Katja heute, an Depressionen, die aber unerkannt und unbehandelt blieben. „Meine Mutter hat den Zuspruch von uns Kindern immer sehr gebraucht“, erinnert sich Katja. „Sie war sehr unberechenbar in ihren Emotionen. Es passierte oft, dass wir aus der Schule kamen und meine Mutter saß in der Ecke und weinte. Sie war nicht in der Lage, uns zu vermitteln, dass das nichts mit uns zu tun hätte. Irgendwie fühlten wir uns immer schuldig.“ Kinder, manchmal sogar schon Babys depressiver Eltern vollbringen oft enormeAnpassungsleistungen, um die als instabil erlebten Eltern zu erreichen und sie zu entlasten. Auch Katja versuchte ihre Eltern zu stützen, indem sie sich stets als sonniges und quirliges Kind präsentierte – ein Überlebensmechanismus, schließlich war sie von ihnen abhängig.
Diese Rolle machte es ihr schwer, sich später von den Eltern abzugrenzen. „Ich hatte ganz stark das Gefühl, nicht erwachsen werden zu dürfen, aus Angst vor Liebesverlust“, erzählt sie. „Das hat mein Wachstum, mein Frau-Werden lange Zeit sehr behindert.“ Katja entwickelte Magersucht und Bulimie – für sie Strategien, um das Erwachsenwerden so weit wie möglich hinauszuzögern und ihre Wut gegen sich statt gegen die verletzlichen Eltern zu richten.
Es dauerte lange, bis Katja es schaffte, sich von den Eltern freizuschwimmen und ihr eigenes Leben zu führen. Die Angst, ihre zerbrechlichen Eltern zu enttäuschen, verschloss ihr von vornherein Türen,
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