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Wir Kinder der Kriegskinder

Wir Kinder der Kriegskinder

Titel: Wir Kinder der Kriegskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Ev Ustorf
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Anerkennung irgendwie da war, aber sie konnte sie nicht formulieren.“

    Nach ihren Auslandsjahren hielt Lena sich nicht lange in Münster auf, sondern zog weiter nach Berlin, um sich dort als freie Künstlerin niederzulassen. Seit über zehn Jahren lebt sie nun in der Hauptstadt, arbeitet, reist, pflegt viele soziale Kontakte. Lena ist zufrieden, steht ihrem Lebensstil inzwischen aber etwas skeptischer gegenüber. Die selbst erkämpfte Freiheit kommt ihr manchmal gar nicht so frei vor. Immer häufiger fällt ihr auf, wie sehr sie in ihrer Lebensführung doch gesteuert ist von einer unbewussten Reaktion auf die Erfahrungen der Eltern. Vor allem in Bezug auf das Thema Geld.
    Bis vor kurzem war Lena stets mit ihrem Konto im Minus – zwar nie dramatisch, aber immer bis zum Anschlag des Dispos. Oft musste sie sich von Freunden übergangsweise Geld leihen. Sobald das Darlehen zurückgezahlt und ihr Konto wieder auf Null war, gab sie jedoch alles wieder aus. „Ich hatte keine Idee,was das Leben eigentlich kostet“, erklärt Lena. „Erst jetzt beginne ich zu verstehen, wieso ich mit Finanzen so schlecht umgehen kann. In Bezug auf Geld habe ich wirklich eine psychische Verweigerungshaltung. Ich bin ja mit einem Haushaltsbuch aufgewachsen und hatte nie Lust auf diese Verzichtsgeschichte und dieses Pfenniggefuchse. Also habe ich die Haltung meiner Eltern einfach ins Gegenteil verkehrt, und das ist genau mein Dilemma. Natürlich kann man damit leben, dass das Konto ständig im Minus ist, aber unterschwellig weiß man, wie dumm das eigentlich ist. Dann gibt es diese Stimme in mir, die sagt: Haha, eigentlich kriegst du es ja doch nicht hin.“
    Inzwischen hat sich Lena ihren Dispo sperren lassen, um ihre finanzielle Situation ein für alle Mal in den Griff zu kriegen. Sie versucht nun, nicht mehr in den Extremen der totalen Unabhängigkeit und Sorglosigkeit zu leben. Das ist zwar oft schwierig und mit großer Anstrengung verbunden, aber insgesamt klappt es besser und besser. So lebt das Erbe der elterlichen Kriegserfahrungen zwar in ihr weiter – aber es soll sie nicht mehr dominieren.
„Flüchtlingskind zu sein heißt für mich, nicht zu wissen, wo man Platz nehmen darf.“
    Katja ist 41 Jahre alt und arbeitet als freie Produktionsleiterin beim Film. Obwohl sie gut im Geschäft ist, erlebt sie in diesem Beruf immer wieder Höhen und Tiefen. Es ist stets schwer vorauszusehen, wie sich die nächsten Monate entwickeln werden: Mal wirkt sie bei Hollywood-Blockbustern mit, mal durchläuft sie nach geplatzten Projekten Phasen der Arbeitslosigkeit. Dass Katja in dieser unsicheren Branche landen würde, war kaum vorauszusehen. Die Eltern vermittelten ihr nämlich ganz andere Werte: Sicherheiten schaffen und die Versorgung zu gewährleisten, stand in Katjas Elternhaus – wie bei so vielen anderen Familien der Nachkriegszeit – an erster Stelle.
    Als ältere Flüchtlingskinder hatten sowohl die Mutter als auch der Vater kaum Gelegenheit zu Bildung und Selbstverwirklichung gehabt, waren sie doch in ihren prägenden Jugendjahren und ihrem frühen Erwachsenenalter vor allem damit beschäftigt, durchzukommen. Ihnen blieben viele Türen verschlossen – mit der Konsequenz, dass es auch für Katja keine Selbstverständlichkeit war, Abitur zu machen und eine höhere Bildung in Anspruch zu nehmen. Dahin zu gelangen, war für sie mit großer Unsicherheit und vielen Selbstzweifeln behaftet.

    „Was meine Mutter mir sicherlich vererbt hat, ist ein Gefühl des Verlustes“, meint Katja. Die Mutter, 1928 geboren, kommt aus Masuren, Ostpreußen, dem damals nordöstlichsten Teil des Deutschen Reiches im heutigen Polen. Bis zu ihrem Tod vor neun Jahren sehnte sie sich nach ihrer Kindheit in Masuren zurück: Das Gefühl von Geborgen- und Aufgehobensein, das sie mit Masuren verband, habe sie später nie wieder in demselben Maß verspürt, erzählt Katja.
    Die letzten Kriegsjahre erlebte die Mutter allerdings als belastend. Der Großvater war eingezogen worden und die Großmutter fuhr als Schaffnerin Munitionszüge in den Osten. Da kein Elternteil zu Hause war, wurde Katjas Mutter in einem Internat in Masuren untergebracht, das ab 1944 je nach dem Verlauf der Front weiter und weiter nach Westen verlegt wurde. Unter der Trennung von den Eltern habe die Mutter sehr gelitten, erzählt Katja. Mitte 1945 fand die kleine Familie schließlich wieder zusammen und ließ sich nach diversen Umwegen in Herne in Nordrhein-Westfalen nieder. „Meine Mutter hat

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