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Wir Kinder der Kriegskinder

Wir Kinder der Kriegskinder

Titel: Wir Kinder der Kriegskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Ev Ustorf
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SS-Männer kamen so oft vor, dass sich die Wehrmachtsführung darüber im Hauptquartier beklagte. Auch Wehrmachtssoldaten vergewaltigten, wie Gerichtsakten belegen. Um die Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten bei den Soldaten unter Kontrolle zu halten, wurden darüber hinaus Wehrmachtsbordelle und SS-Offiziersbordelle geschaffen, in denen Hunderte vor allem polnischer und russischer Mädchen und Frauen zur Prostitution gezwungen wurden.“ Selbst in den Konzentrationslagern unterhielten die Nationalsozialisten Bordelle, wie hinlänglich bekannt ist.
    Möglicherweise sind die durch deutsche Soldaten begangenen Vergewaltigungen auch eine Erklärung dafür, dass viele deutsche Männer nach ihrer Rückkehr aus dem Krieg von den sexuellen Gewalterfahrungen ihrer Frauen und Töchter nichts wissen wollten – dies zumindest ist in Zeitzeuginnen-Berichten und auch den Aufzeichnungen der „Anonyma“ immer wieder zu lesen. Die weitreichenden Folgen der sexuellen Gewalt für das Leben der eigenen Frauen und Töchter anzuerkennen, hätte das Selbstbild des anständigen deutschen Landsers vielleicht massiv erschüttert.

    Das Schweigen der Ehemänner, die sexuelle Moral der 1950er Jahre und die Kriegsschuld erschwerten eine Beschäftigung mit den traumatischen Erlebnissen der knapp zwei Millionen deutschen Vergewaltigungsopfer. Und auch die Frauen selbst schwiegen über die erlittenen Demütigungen – aus Scham, analysiert die Schweizer Ärztin Monika Hauser, Gründerin der Hilfsorganisation „medica mondiale“, eines Vereines zur Unterstützung von traumatisierten Frauen und Mädchen in Kriegs- und Krisengebieten. „Für die Frauen sind die Erlebnisse sexualisierter Gewalt und die damit verbundenen Demütigungen noch heutetabu- und schambeladen“, erklärt sie in einem Interview mit der Zeitschrift Psychologie Heute. „Und dass die Frauen bisweilen zum Schweigen verdammt wurden, verstärkte das Gefühl der Isolation und Ohnmacht.“
    Die Ärztin initiierte das Zeitzeuginnen-Projekt „Zeit zu Sprechen“ über die Vergewaltigungen deutscher Frauen in den letzten Kriegs- und Nachkriegsmonaten und stellte fest, dass die Erlebnisse von damals bis in die heutige Zeit nachwirken. Chronische Krankheiten und lebenslange psychische Probleme sind Folgen der bis heute kaum bearbeiteten Vergewaltigungen. Auch in Fachkreisen weiß man dies seit einigen Jahren: In der geriatrischen Psychiatrie, den Pflegediensten und Altenheimen ist inzwischen bekannt, dass viele Depressionen, Schlafstörungen und Angstzustände älterer Patientinnen auf sexuelle Gewalttaten der Kriegs- und Nachkriegszeit zurückgehen. Über Jahrzehnte hinweg hatten viele betroffene Frauen die erlittene sexuelle Gewalt zwar erfolgreich verdrängen können – doch mit dem Ende der Berufstätigkeit, der Loslösung aus dem Familienkreis sowie der Inanspruchnahme körperlicher Pflege kehrten die Erinnerungen zurück.

    Forschungen zufolge leiden ungefähr 55 Prozent aller Vergewaltigungsopfer nach dem Ereignis an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Bei einem Drittel der Betroffenen bleibt die Störung lebenslang bestehen. „Gefühlsverleugnungen, Vermeidungsreaktionen und insbesondere emotionale Anästhesie- und Dissoziationstendenzen“ seien typische Folgen von sexueller Traumatisierung, erklären die Psychiater Gottfried Fischer und Peter Riedesser (Fischer/Riedesser (Hg.): Lehrbuch der Psychotraumatologie). Zerstört werde zudem „das eigene Selbstverständnis, und zwar in Bezug auf die Fähigkeit zur Selbstbestimmung und Selbstverteidigung in bedrohlicher Lage“. Die Welt wird als nicht mehr sicher erlebt – und dieser tiefe Vertrauensverlust kann mitunter auch vor den nächsten Generationen nicht verheimlichtwerden: Eltern, die einer Vergewaltigung zum Opfer fielen und deren Trauma unbearbeitet bleibt, geben ihre Erfahrungen oft ungewollt an ihre Kinder weiter, auch wenn sie über das Geschehene schweigen. Die Kinder reagieren, indem sie emotionale Zustände des Elternteils wie Ängste oder Schuldgefühle übernehmen oder das Trauma im Sinne eines „acting out“ – also einer Reinszenierung des Erlebten – zu wiederholen versuchen, um es für sich zu konkretisieren. „Wir erhalten viele Briefe, in denen Frauen schreiben, dass das Trauma der Mütter ihr ganzes Leben überschattet hat“, berichtet Monika Hauser.

    Auf den nächsten Seiten möchte ich zeigen, welche Folgen das Schweigen über die sexuellen Gewalterlebnisse der letzten Kriegsmonate

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