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Wir Kinder der Kriegskinder

Wir Kinder der Kriegskinder

Titel: Wir Kinder der Kriegskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Ev Ustorf
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nicht“, sagt Radebold in einem Interview für dieZeitschrift Psychologie Heute. „Was jetzt zählt, ist: Sensibel auf die eigenen Bedürfnisse achten, über sich reden können, trauern können, Gefühle zulassen – und sie auch zeigen können.“ Nicht zuletzt liegt darin auch eine Chance für die Kriegskinder und ihre Kinder, sich in späten Jahren doch noch einmal näherzukommen. Denn ein besserer Zugang zu den eigenen Gefühlen ermöglicht auch ein empathischeres Verstehen des Gegenübers.

5. Scham und Schweigen
Wie sexuelle Übergriffe die Familiengeschichte prägen
    Im Jahr 2003 veröffentlichte der Eichborn-Verlag die anonymen Tagebuchaufzeichnungen einer etwa 30-jährigen Frau, die in den Monaten April bis Juni 1945 die Besetzung Berlins durch die Rote Armee miterlebte. Das Buch erregte sofort große Aufmerksamkeit, denn der Bericht der „Anonyma“ mit dem Titel Eine Frau in Berlin berührte ein Thema, über das im Deutschland der Nachkriegszeit viele Jahrzehnte lang nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen worden war: Die hunderttausendfachen sexuellen Übergriffe alliierter Soldaten auf deutsche Mädchen und Frauen – und bisweilen auch Jungen – in den letzten Kriegs- und Nachkriegsmonaten. Recherchen der Autorinnen Helke Sander und Barbara Johr (BeFreier und Befreite: Krieg, Vergewaltigungen, Kinder) zufolge wurden allein in Berlin in den Monaten April bis Juni 1945 mindestens 100.000 Frauen vergewaltigt, also jede 14. der insgesamt 1,4 Millionen Berlinerinnen. Über 40 Prozent der Betroffenen, so die Autorinnen, seien mehrfach vergewaltigt worden, jede Zehnte sei anschließend an inneren Verletzungen gestorben oder habe sich umgebracht.
    Die Situation in den Ostgebieten war ähnlich: Nach einer gründlichen Durchforstung deutscher und russischer Archive und Krankenhausakten schätzt der britische Historiker Anthony Beevor (Berlin 1945: Das Ende) die Zahl der während Flucht und Vertreibung von sowjetischen Soldaten vergewaltigten Mädchen und Frauen auf 1,4 Millionen.
    Doch nicht nur im Osten, auch in Süd- und Westdeutschland kam es zu Übergriffen durch alliierte Soldaten: In Stuttgart und Umgebung ermittelten die Alliierten 1.200 Vergewaltigungsfälle durch französische Soldaten, in Heidelberg verhandelten dieGerichte 487 Vergewaltigungen durch US-amerikanische Soldaten. Historiker gehen heute von insgesamt zwei Millionen deutschen Vergewaltigungsopfern aus. Doch das ganze Ausmaß der Übergriffe wird wohl nie bekannt werden: Aus Scham und Demütigung schwiegen viele betroffene Frauen – und schweigen bisweilen noch heute.

    Die „Anonyma“ jedoch schilderte in kaum erträglicher Klarheit die unsäglichen Erlebnisse und Überlebensstrategien vieler Frauen im besetzten Berlin und brach damit ein Tabu. Bereits im Jahr 1959 hatte die unbekannte Autorin ihre Aufzeichnungen in einem kleinen Schweizer Verlag veröffentlicht. Zu diesem Zeitpunkt löste das Buch jedoch ein negatives Echo aus: Eine Beschäftigung mit den Missbrauchserfahrungen deutscher Frauen in den Kriegs- und Nachkriegsmonaten, zudem noch in so kühlem und unsentimentalem Stile verfasst, war nicht erwünscht. So entschloss sich die Autorin, die Aufzeichnungen erst nach ihrem Tod wieder veröffentlichen zu lassen – und selbst dann nur im Schutze der Anonymität. Für heutige Leser ist das Bemerkenswerte an den Aufzeichnungen der „Anonyma“ aber womöglich weniger die Schonungslosigkeit ihrer Schilderungen als ihr Unwille, die Täter angesichts der Kriegsschuld der Deutschen zu verurteilen. In gewissem Sinne betrachtete sie ihr Schicksal als Bringschuld für das durch die Deutschen verursachte millionenfache Leiden. „Keines der Opfer kann das Erlittene gleich einer Dornenkrone tragen“, erklärt sie. „Ich wenigstens hatte das Gefühl, dass mir da etwas geschah, was eine Rechnung ausglich.“

    Tatsächlich hatten nicht nur „der Russe“, „der Franzose“, „der Amerikaner“ und bisweilen auch „der Engländer“ ihre Macht durch sexualisierte Gewalttaten an Frauen und Mädchen zu untermauern versucht. Deutsche Wehrmachtssoldaten, Angehörige der SS, der SA sowie der Polizeibataillone gingen in den von Nationalsozialisten besetzten Gebieten gleichermaßen grausamgegen Mädchen und Frauen vor. Die Forschung geht heute von ungefähr zehn Millionen Vergewaltigungen durch deutsche Männer allein auf russischem Boden aus. Die Bremer Historikerin Barbara Johr beschreibt die Situation wie folgt: „Vergewaltigungen durch

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