Wir Kinder der Kriegskinder
Missbrauch kam, kann ich nicht sagen. Ich denke schon, dass viele Geschehnisse auf die Familie eingeprasselt sind, über die nie wieder gesprochen wurde“, berichtet Georg. „Was ich allerdings weiß, ist, dass meine Mutter und ihre Geschwister in dieser Zeit schreckliche Dinge sahen. Sie sind oft zu Fuß die 20 Kilometer zum Haus der Großeltern gelaufen und haben auf dem Weg immer wieder Leichen gesehen, tote SS-Soldaten, die erfroren in den Gräben lagen. Diese Phase war sicherlich sehr traumatisch. Die Gewalt des Krieges kann nicht an ihnen vorübergegangen sein.“
Nach Kriegsende wurde die Großmutter vor die Wahl gestellt, entweder die polnische Staatsbürgerschaft anzunehmen oder nach Deutschland auszusiedeln. Sie entschloss sich für die Aussiedlung und ein Güterzug brachte die Familie und andere Vertriebene ins Grenzdurchgangslager Friedland im südlichstenZipfel Niedersachsens. Die Fahrt dauerte Wochen, da der Zug immer wieder tagelang auf den Gleisen hielt. Für alle sei die Reise eine große Belastung gewesen, berichtet Georg: Eine Schwester erkrankte während des Transports an Typhus und eine andere verfiel in eine Katatonie – sie aß, trank, sprach und bewegte sich nicht mehr. In Friedland wurde die Familie einer Flüchtlingsunterkunft im Sauerland zugewiesen und musste warten, bis der Vater aus dem Krieg zurückkehrte. Erst dann konnte sie wieder über einen Teil des alten Vermögens verfügen und ein Häuschen im Sauerland kaufen. Georgs Mutter war zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 14 Jahre alt.
Krieg, Heimatverlust und die Erfahrung des gesellschaftlichen Abstiegs von einer großbürgerlichen Existenz zum Flüchtling, all dies prägte die Mutter so sehr, dass sie fortan ihre Energie darauf verwendete, ihr Leben gegen das bedrohliche „Außen“ abzuschirmen.
„Sie war immer viel zu Hause, unternahm kaum etwas und hatte keine gesellschaftlichen Hobbys“, erinnert sich Georg. „Auch heute zieht sie sich noch zurück in ihr Schneckenhaus. Ihr Leben, das ist ihr Heim.“ Auch ihre Kinder wünschte sich die Mutter „in Sicherheit“: Sie forderte Georg stets auf, sich in der Schule mehr anzustrengen, damit er später einmal eine höhere Sparkassenlaufbahn einschlagen könne – ein Beruf, der weder Georgs Plänen noch seinen Neigungen entsprach. Die Mutter war sicherlich fürsorglich und familienorientiert, doch innerlich nur wenig präsent: Sie sah zwar zu, dass „alles lief“, war aber keine Ansprechpartnerin in Sachen „Gefühle“.
Auch die nationalsozialistische Vergangenheit des Vaters beeinflusste Georgs Entwicklung stark. 1927 geboren, durchlief der Vater alle Jugendorganisationen der Hitlerzeit. Noch zu jung für die Front, wurde er Anfang der 1940er Jahre zum Reichsarbeitsdienst eingezogen und einem militärisch orientierten Trainingslager im Sauerland zugewiesen. Nach einer kurzenAusbildungszeit hatte der 17-jährige Vater das „Glück“, nicht an die Front versetzt zu werden, sondern als Ausbilder bleiben zu dürfen. Erst kurz vor Kriegsende wurde er zum sogenannten Dienst an der Waffe im Rheinland verpflichtet, erlitt jedoch sofort eine leichte Verletzung und erlebte den Niedergang des nationalsozialistischen Regimes im Lazarett.
Die Erziehung im Nationalsozialismus und vor allem im Arbeitsdienst habe den Vater sehr geprägt, glaubt Georg: „Bis heute sind die reaktionären Wertvorstellungen, die er vermittelt bekam, in seiner Persönlichkeit verankert. Er hat sich dieser Einflüsse nur schwer oder gar nicht entledigen können. Er ist sehr strukturiert, diszipliniert, ordnungsliebend und legt viel Wert auf gesellschaftliche Normen und Werte. Heute ist ihm alles zu schlaff und zu anti-autoritär. Und auch in der Erziehung seiner Kinder haben sich diese Prägungen niedergeschlagen: Ich bin sehr streng erzogen worden, für Sachen wie ‚Ich hab’ da ein Problem‘ oder Gefühlsfragen war kein Raum.“ Auch die Eltern seien nicht in der Lage gewesen, angemessen miteinander zu kommunizieren: Wenn es Streit gegeben habe, seien ordentlich die Fetzen geflogen und die Kinder hätten in ihren Zimmern verschwinden müssen. Am nächsten Morgen haben dann alle so getan, als sei nichts gewesen. Mitunter hätte der Vater auch die Kommunikation zur gesamten Familie abgebrochen und wochenlang mit niemandem gesprochen.
Die eigenen Angst- und Trauergefühle zu spüren, einen konstruktiven Umgang mit Wut zu pflegen, zwischenmenschliche Konflikte zu lösen – das konnte Georg in seinem
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