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Wir Kinder der Kriegskinder

Wir Kinder der Kriegskinder

Titel: Wir Kinder der Kriegskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Ev Ustorf
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Erträglichen gewesen sein. Zumal das Mädchen als Älteste von fünf Geschwistern vermutlich eine besonders starke Angst und auch Verantwortung für die Familie verspürt haben muss. Einfach zu leugnen, was geschehen war, war vielleicht die einzige Möglichkeit, mit dem Trauma umzugehen.
    Wollte Doris Mutter aus diesem Grund nicht wahrhaben, was geschah, als später die eigene Tochter und zwei Nichten Opfer eines Sexualtäters innerhalb der Familie wurden?
    „Ich glaube, dass in der Familie durch diese Erfahrung von Vergewaltigung und Angst eine ungeheure Scham existiert“, analysiert Doris. „Meine Mutter und ihre beiden Schwestern sind jede auf ihre Weise damit umgegangen. Meine Mutter, indem sie überhaupt keine Nähe zulässt und versucht, die Leute auf Abstand zu halten. Meine zweite Tante, indem sie einen Mann geheiratet hat, der zu Gewalt neigt und die eigene Tochter missbraucht.“ Und auch die dritte Tante habe sich dem Schweigen verschrieben, berichtet Doris. Als Doris ihr vor einigen Jahren von den Übergriffen des Onkels auf sie und ihre Cousinen erzählte, habe die Tante ihr geraten, alles zu vergessen: „Jetzt habtihr so lange geschwiegen, jetzt braucht ihr auch nichts mehr zu sagen.“ Doris war entsetzt über diese Reaktion. „Wegschauen und Schweigen, das ist aus der mütterlichen Familie mitgekommen. Aber Schweigen ist falsch: Nur Reden hilft, damit es nicht wieder passieren kann. Meine größte Sorge gilt nun meinen Nichten. Ich möchte nicht, dass es in meiner Familie Mädchen gibt, die dasselbe erleben müssen. Zu meinem Bruder habe ich gesagt: Mach deine Kinder stark, dass sie bereit sind, gegen so etwas vorzugehen. Das Schweigen muss ein Ende haben.“

    Die Kriegserfahrungen der Eltern wirkten sich auch auf Doris Beziehungsleben aus. Sich an einen Partner zu binden, Vertrauen zu entwickeln, die eigene Bedürftigkeit zuzulassen, fällt Doris noch heute schwer. Bislang suchte sie sich immer Partner, die aufgrund bereits bestehender Beziehungen oder eigener Probleme für eine dauerhafte Bindung nicht in Frage kamen – so musste sie sich gar nicht erst einlassen und konnte die eigenen Bedürfnisse durch ihr altruistisches Verhalten abwehren: „Ich habe mir immer Männer gesucht, die mit sich selbst genug zu tun hatten, und mich dann bemüht, ihnen zu helfen. Das wollte ich ja bei meinem Vater schon. Und so fand ich mich immer wieder in einer Rolle, in der ich selbst nicht wichtig war.“
    Sobald jemand aber ernsthaft Interesse an einer Partnerschaft mit ihr zu zeigen begann, brach Doris die Beziehung ab. „Vermutlich steckt hinter meinen Schwierigkeiten auch ein Schutz vor Nähe: Wenn ich nichts an mich heranlasse, kann ich auch nichts so verlieren, wie es meinen Eltern passiert ist“, meint Doris. So wirkt sie der Hoffnung, durch Partnerschaft oder eine eigene Familie irgendwann ein Heimatgefühl zu verspüren, mit ihrem Beziehungsverhalten doch immer wieder entgegen. Dennoch ist Doris optimistisch, dass es ihr durch die intensive Beschäftigung mit der Familiengeschichte gelingen wird, die negativen Prägungen hinter sich zu lassen.
    Ein wichtiges Anliegen ist für sie dabei, zu verhindern, dassdie Traumatisierung in ihrer Familie weitergegeben wird. „Es braucht seine Zeit, diese Verstrickungen aufzulösen“, reflektiert sie. „Aber inzwischen glaube ich, meine Erfahrungen in meine Familie mit einbringen zu können. Denn wenn schon ein Einzelner im System nicht so weitermacht wie bisher, dann tut sich etwas. Die Anderen müssen dann in ganz kleinen Schritten mitgehen. Und so verändert sich etwas.“
„Ich hatte nicht die Sicherheit, bei Männern Grenzen zu setzen.“
    Ninas Vater ist mittlerweile 78 Jahre alt. Nun beginnt er, sich mit seinen Kindheitserlebnissen zu beschäftigen. Er schreibt Erinnerungen an seine Kindheit auf einem Bauernhof in Ostpreußen nieder, erzählt vom Schlittschuhlaufen auf dem Weiher hinter dem Haus, vom allabendlichen Beisammensein vor dem Kachelofen, von den Arbeiten, die auf dem Hof verrichtet werden mussten. Er erinnert sich an die Zeit, als die Welt noch heil schien – die Zeit, bevor das Grauen über seine Familie hereinbrach. „Er holt sich ein Stück seiner Vergangenheit wieder“, glaubt seine 1962 geborene Tochter. Dass ihr Vater sich allerdings auch dem Trauma der Flucht noch einmal in ähnlicher Weise nähern wird, das bezweifelt Nina. „Jetzt, wo er anfängt, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, frage ich ihn manchmal danach“,

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