Wir Kinder der Kriegskinder
doch, zu schreiben: ,Ich habe dich lieb.‘ Aussprechen können sie das beide nicht.“ Wie so viele andere Kinder von Kriegskindern auch, wurde Doris von ihren Eltern zwar gut versorgt, aber geborgen fühlte sie sich zu Hause nicht. „Mir fehlte schon als Kind der Halt“, erinnert sie sich. „Ich kam mir fremd in der Welt und in mir selbst vor.“
Diese Unfähigkeit der Eltern, emotional auf Doris einzugehen, hatte auch Folgen für ihr Gefühlsleben: Eigene Bedürfnisse konnte sie nicht gut wahrnehmen. „Ich hatte immer eine hohe Sensibilität dafür, wie es anderen geht“, erzählt sie. „Aber wie es mir geht, das konnte ich über viele Jahre nicht sagen. Das lerne ich erst jetzt.“ Doris glaubt, dass die Ehe der Eltern noch heute eine Art Schicksalsgemeinschaft ist, die ihren Ursprung in den ähnlichen kriegsbedingten Kindheitserfahrungen hat. „Ich bin mir ganz sicher, dass es das Thema „Verlust“ ist, das meine Eltern aneinander bindet“, analysiert sie. „Diese gleiche Geschichte und diese gleiche Problematik, mit Gefühlen umzugehen.“
Die emotionale Unerreichbarkeit der Eltern wird für Doris besonders deutlich, wenn sie an eine Situation zurückdenkt, die sie als zehnjähriges Mädchen erlebte. Mit ihren Eltern war sie übers Wochenende bei einer Schwester der Mutter zu Besuch. Als Doris zu Bett gegangen war, erschien plötzlich der Onkel und legte sich zu ihr ins Bett. Er begann, sie am ganzen Körper zu streicheln – eine beängstigende Erfahrung für das Mädchen. Alser am zweiten Abend wiederkam, verließ Doris das Bett, ging zu den übrigen Erwachsenen hinunter und sagte, dass sie nicht wolle, dass der Onkel sie berühre. „Meine Eltern haben nur gelacht und mich wieder ins Bett gebracht“, erinnert sich Doris. Wenig später habe der Onkel Doris erneut aufgesucht, woraufhin sie sich aber auf den Bauch gedreht und schlafend gestellt habe. Heute weiß Doris, dass auch ihre beiden Cousinen, die eigene Tochter des Onkels und die Tochter einer anderen Tante, von diesem Onkel missbraucht wurden. Es schockiert sie noch immer, dass niemand in der Familie auf die verschiedenen Signale der Kinder reagierte. „Meine Eltern haben gesagt, sie hätten das damals nicht kapiert. Doch sie hätten mir glauben und dem Onkel Einhalt gebieten müssen. Für ein zehnjähriges Kind ist es schrecklich, den Mut zu haben, die Eltern um Hilfe zu bitten und keine Hilfe zu bekommen“, erinnert sich Doris. „Und ich habe dadurch an meinen Wahrnehmungen gezweifelt und über Jahre geglaubt, meine Empfindungen wären falsch. Als ich dann mit Mitte 30 meinen Eltern und meinem Bruder davon erzählte, war die Reaktion dieselbe: Mein Vater, mein Bruder und meine Mutter saßen schweigend am Tisch. Erst während eines psychotherapeutischen Klinikaufenthalts habe ich verstanden, dass diese Reaktion einer Hilflosigkeit geschuldet war. Damals dachte ich: Die glauben mir wieder nicht.“
Einen Grund für das Wegschauen und anhaltende Schweigen der Eltern glaubt Doris in einer generellen Tabuisierung des Themas sexueller Missbrauch zu erkennen. Denn Missbrauchserfahrungen ziehen sich durch die Familiengeschichte: Auf dem Gutshof der Mutter habe es gegen Kriegsende zahlreiche Vergewaltigungen durch sowjetische Soldaten gegeben, über die aber bis heute in der Familie nicht gesprochen werde, erklärt Doris. „Alle jüngeren Frauen und Mädchen wurden in den letzten Kriegsmonaten auf dem Hof in einem Zimmer hinter einem Schrank versteckt. Meine Großmutter, ihre Schwägerin und deren Tochter sind trotz aller Vorsichtsmaßnahmen von den Russenvergewaltigt worden“, berichtet Doris. „Die Schwägerin meiner Großmutter und deren Tochter haben sich infolgedessen sogar das Leben genommen, wie sehr viele Frauen in der Umgebung.“ Doris Mutter, die Älteste von fünf Geschwistern, war zu diesem Zeitpunkt acht Jahre alt. Was genau sie von den Vergewaltigungen mitbekommen hat, weiß Doris nicht – weder die Großmutter noch die Mutter sprachen jemals wieder darüber. Doris selbst erfuhr von den Vergewaltigungen erst aus einer Niederschrift über die Kriegsjahre, die die Großmutter vor ihrem Tode für die fünf Kinder angefertigt hatte. „Da war ich schon erwachsen, 25 oder 26 Jahre alt“, erinnert sich Doris. „Und ich fragte meine Mutter dann: ‚Wusstest du das?‘ Und sie sagte: ‚Das stimmt alles nicht.‘ “
Für die damals achtjährige Mutter müssen die Erlebnisse der letzten Kriegsmonate hart an der Grenze des
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