Wir Kinder der Kriegskinder
Elternhaus nicht lernen. Die emotionale Versorgung fand eher durch die Geschwister statt. „In Sachen Gefühle oder persönliche Entwicklung war meine ältere Schwester viel eher meine Ansprechpartnerin“, erklärt Georg. „Aber das kann den Vater ja trotzdem nicht ersetzen.“
Wie sehr Georg jedoch vom emotionalen Vatermangel undden negativen Identifizierungen mit den nationalsozialistischen Erziehungsidealen seines Vaters geprägt war, merkte er erst, als vor einigen Jahren seine beiden Kinder zur Welt kamen. Die eigene Vaterrolle brachte ihn in die Nähe zum eigenen Vater – und stürzte ihn in eine tiefe Krise. „Plötzlich war ich in der Situation, dass ich selber erziehen durfte. Und da fragte ich mich, wie mein eigener Vater das früher gemacht hatte und wie es mir als Kind damit so ergangen war“, berichtet er. „Mit den eigenen Kindern erlebt man ja immer wieder Situationen, in denen sie einen bis aufs Blut reizen und man denkt: Ich gehe jetzt mal lieber nach nebenan. Mein Vater hat in einer solchen Situation früher mit Gewalt reagiert, da gab es Schläge, wenn wir nicht ‚gehorchten‘. Diesen Fehler wollte ich nicht machen. Ich begann dann, mir intensiv Gedanken darüber zu machen, wie ich mit meinen Emotionen umgehe, wie ich anderen meine Gefühle vermitteln kann, ohne sie zu verletzen. Da entdeckte ich, dass ich das gar nicht kann. Das musste ich erst lernen.“
Georg konnte mit den heftigen Affekten seiner Kinder nur schlecht umgehen – möglicherweise, weil sie ihn auch mit eigenen unterdrückten Gefühlen in Berührung brachten. Er glitt in eine Depression, die er im Nachhinein als eine nach innen gekehrte Form der Aggression deutet: „Etwas konnte sich keinen Platz schaffen.“ In einer zweijährigen Psychotherapie begann er, sich intensiv mit seiner Geschichte auseinanderzusetzen. „Ich habe alles überprüft: Was ist wichtig, was ist unwichtig?“, erzählt er. „Vorher erschienen mir viele Dinge wichtig, die ich selbst in meiner Erziehung mitbekommen hatte. Dass man berufliche Sicherheiten schaffen muss, ein sicheres Zuhause bauen muss, immer den ‚starken Mann‘ markieren muss. ‚Mann‘ darf keine Schwächen haben. Erst mit der Zeit ging mir auf, dass es gar nicht so schlimm ist, wenn mal etwas nicht klappt. Dass es menschlich ist und andere Menschen das auch akzeptieren, wenn man zeigt, dass man schwach ist.“ Auch die Möglichkeit, sich beruflich zu verändern, half ihm bei seinem Entwicklungsweg – Georgwechselte von seiner Stelle als Physiotherapeut im Krankenhaus auf eine Position im Gesundheitsmanagement.
Sich vom Männerbild des eigenen Vaters zu verabschieden, war für Georg ein harter, aber letztlich befreiender Weg. „Man hat ja nur den einen Vater gehabt“, erklärt er. „Und ich hätte es natürlich so machen können wie er. Aber das konnte ich nicht. Deshalb musste ich für mich ein ganz neues Vaterbild entwerfen.“
Heute ist Georg viel zufriedener mit seinem Familienleben, seiner Beziehung, seinem Job – es fühlt sich für ihn alles authentischer an. Seinen Kindern ist er ein zugänglicher, präsenter Vater. Die Enttäuschung darüber, dass die Beziehung zum eigenen Vater in emotionaler Hinsicht so leer war, wird wohl bleiben: „Ich kann mich nicht erinnern, jemals mit meinem Vater ein Gespräch übers Mannwerden oder über Gefühlsdinge geführt zu haben. Und das bedaure ich sehr.“
Auch wenn sich beide Gesprächspartner mit der Geschichte der Eltern und den eigenen Prägungen auseinandergesetzt haben, bleibt bei ihnen doch die Sehnsucht nach einer innigeren Beziehung zu den Eltern. Der Schmerz über die Sprachlosigkeit, über den erfahrenen Mangel an Nähe und emotionaler Zuwendung, über die „Fremdheit“ sitzt nach wie vor tief. Während Georg es jedoch als unwahrscheinlich einschätzt, dass seine Eltern sich noch einmal öffnen werden, beobachtet zumindest Claudia, dass ihre Mutter mit zunehmendem Alter in emotionaler Hinsicht zugänglicher wird. Ein wichtiger Schritt, wie der Altersforscher Radebold erklärt: Kriegskinder, denen es gelingt, wieder einen Zugang zu ihren Erinnerungen und ihrem Gefühlsleben zu erhalten, altern seelisch gesünder. „Die frühen Vorbilder – Härte gegen sich selbst zeigen, Ängste wegpacken und die eigenen körperlichen und seelischen Bedürfnisse nur eingeschränkt wahrnehmen – eigenen sich zum Überleben im Krieg und auch in der Nachkriegszeit, aber für das seelische Wohlbefinden im Alter taugen sie
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