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Wir Kinder der Kriegskinder

Wir Kinder der Kriegskinder

Titel: Wir Kinder der Kriegskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Ev Ustorf
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und ersten Nachkriegsmonate noch für die Kinder der Kriegskinder, die dritte Generation, haben kann.
„Das Schweigen muss ein Ende haben.“
    Heimatsuche und Wiedergutmachung der elterlichen Verlusterfahrungen – auch in Doris Geschichte finden sich diese Themen wieder. Die 1965 geborene Landwirtin arbeitet für einen Bauernverband in Rheinland-Pfalz und sieht einen direkten Zusammenhang zwischen ihrem Engagement für die Landwirte und den kriegsbedingten Verlusterfahrungen ihrer Eltern. Sowohl die Familie der Mutter als auch die des Vaters verloren durch den Krieg ihren landwirtschaftlichen Besitz.
    Die Mutter, 1937 geboren, wuchs als Älteste von fünf Geschwistern auf einem großen Gutshof auf der Insel Rügen auf, den die Familie im September 1945 für immer verlassen musste – im Zuge der Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone wurden alle Bauern mit über 100 Hektar Besitz enteignet. Der Vater, 1933 auf einem kleineren Hof in der Magdeburger Börde in Sachsen-Anhalt geboren, musste den Familienbesitz einige Jahre später ebenfalls aufgeben: Der Großvater weigerte sich 1952, in eine Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG) einzutreten und floh in einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit seiner Familie gen Westen. „Die Familie meines Vaters hat immer geglaubt, sie könnte noch einmal zurück auf den landwirtschaftlichen Betrieb und ihr altes Leben wieder aufnehmen. Aber natürlich kam es nicht dazu“, berichtet Doris. „Mein Vater hat darunter immer gelitten. Allerdings wurde nicht viel drüber gesprochen, zumindest habe ich als Kind keine Erinnerungen daran. Ich erfuhr das alles erst bewusst, als ich weit über 20 war.“ Der schmerzliche Verlust war auch ohne Worte spürbar.

    Nach dem Abitur entschloss Doris sich, Landwirtschaft zu studieren. Sie konnte damals selbst nichts sagen warum – die Eltern rieten ihr eher davon ab. Doch Doris identifizierte sich so sehr mit der Geschichte der Eltern, dass sie als Studienort sogardieselbe kleine Stadt im Rheinland wählte, in der sich Mutter und Vater Anfang der 1960er Jahre kennengelernt hatten – und sogar in dieselbe Straße zog, in der die Eltern damals gelebt hatten. Während ihres Studiums wurde Doris klar, was die Eltern verloren hatten, an Land, an Zugehörigkeit, an Werten. Sie entschloss sich, in ihrem Berufsleben fortan für die Rechte der Landwirte zu kämpfen.
    Heute arbeitet Doris in einem Verband und setzt sich dafür ein, dass den Bauern Gerechtigkeit widerfährt und sie auch unter den heutigen Bedingungen ihr Auskommen haben. „Sicherlich versuche ich damit irgendwie, wieder Gerechtigkeit herzustellen, denn genau das wurde meinen Großeltern und Eltern versagt“, meint sie.
    Bei Doris verschwimmt die Grenze zwischen den Verstrickungen in die Familiengeschichte und den eigenen Bedürfnissen immer wieder. „Ich muss immer darauf achten: Was davon tue ich für mich und was meine ich, für meine Vorfahren tun zu müssen? Inzwischen ist es aber nicht mehr mein Ziel, meine Eltern zu heilen. Das kann ich ohnehin nicht“, reflektiert sie.
    Diese bittere Erkenntnis ist allerdings noch relativ jung: Seit einigen Jahren kämpft Doris mit Depressionen, im letzten Jahr erlitt sie einen Burnout und verbrachte sechs Wochen in einer Reha-Klinik. Seit diesem Aufenthalt weiß sie, dass sie besser auf sich achten muss: „Ich darf nicht wieder in Perfektionismus verfallen und mich für die Bauern aufopfern, die ja manchmal gar nicht sehen, wie sehr ich für sie kämpfe.“ Ihr Engagement ist eine schwierige Gratwanderung.

    Doris vermutet, dass hinter ihrem überdurchschnittlichen beruflichen Engagement auch das Bedürfnis nach Anerkennung vom Vater steckt, der wenig offenkundiges Interesse für sie zeigte. „Mein Vater hat immer nur seine Heimat gesehen. Vielleicht aus den Augenwinkeln noch meine Mutter und seinen Sohn. Aber ich konnte machen, was ich wollte“, erzählt Doris. EmotionaleZuwendung, körperliche Nähe, Liebesbeweise – das habe der Vater nicht zeigen können. Noch heute schenke er ihr Anerkennung und Zuneigung nur in einer verschlüsselten Form: „Er sagt zum Beispiel immer ‚Fahr vorsichtig.‘ Das ist seine Art und Weise zu sagen: ‚Ich hab dich lieb, pass auf dich auf.‘ “
    Auch die Mutter habe stets Schwierigkeiten gehabt, ihre Gefühle mitzuteilen. „Von ihr gab es zwar körperliche Nähe, aber verbale Liebesbeweise bekomme ich erst, seitdem es Handys und SMS gibt. In diesen kurzen Nachrichten schafft sie es dann

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