Wir Kinder der Kriegskinder
erzählt sie. „Aber dabei muss man sehr vorsichtig vorgehen. Mir ist bewusst, dass vieles in ihm anschließend weiterarbeitet; das führt unter Umständen in den kommenden Tagen zu ,Nachbeben‘. Und wenn er diese dann alleine mit sich ausmachen muss ... dann ist mir nicht wohl. Ich überlege mir lieber drei Mal, welchen Stein ich in den Teich werfe, weil ich weiß, welche Kreise das zieht.“
Im Winter 1944 floh der 14-jährige Vater mit seiner Mutter und den fünf Geschwistern von Ostpreußen übers Frische Haff in Richtung Danziger Hafen. Angesichts der vielen Gefahren auf dieser beschwerlichen Reise – die extreme Kälte, die Bombardierungen aus der Luft, die vorrückenden sowjetischen Armeen – beschloss die Großmutter, dass die Familie tagsüber nicht gemeinsam unterwegs sein solle: In Zweiertrupps mussten die Kinder zwischen sechs und 16 Jahren zu Fuß ihren Weg über die Dörfer finden, erst abends trafen sich Mutter und Kinder dann auf dem Marktplatz eines Dorfes wieder. „Meine Großmutterdachte anscheinend, dass die Chancen so größer wären, dass sie alle durchkämen“, erklärt Nina. Sie selbst kann diese Haltung allerdings nicht nachvollziehen: „In den kleinen Gruppen waren die Kinder umso schutzloser. Eine meiner Tanten, die 16-Jährige, ist dabei vergewaltigt worden. Es wird erzählt, dass sie abends zu meiner Großmutter gegangen sei und ihr davon berichtet habe. Da sagte die Großmutter anscheinend, sie solle sich nicht so anstellen, so etwas würde im Krieg eben passieren.“ Auch der 14-jährige Vater sei während der Flucht missbraucht worden. Was konkret passierte, darüber habe er allerdings nie gesprochen: „Er hat öfters angedeutet, dass es auch Übergriffe auf Jungen gab, dass auch er eine schlimme Erfahrung gemacht habe. Ich habe allerdings nie nachgebohrt, weil ich merkte, dass es für ihn sehr unangenehm ist, darüber zu sprechen.“
Überhaupt habe der Vater nur wenige Erinnerungen an die Flucht. Im Januar 1945 quartierte sich die Familie im Danziger Hafen auf ein Schiff nach Dänemark ein, das aber während der Fahrt über die eisige Ostsee von britischen Fliegern bombardiert wurde und eine Woche auf See lag, bevor es repariert werden konnte. Der Vater kann noch heute nicht sagen, was er in dieser äußerst belastenden Situation empfunden habe, wie es ihm gegangen sei – vermutlich waren die Erlebnisse so traumatisch, dass er sie nur bewältigen konnte, indem er von vornherein jegliche Emotionen abspaltete. „Ich habe ihn zum Beispiel einmal gefragt, was seine Geschwister und er die ganze Woche in der Eiseskälte auf diesem Schiff gemacht haben“, berichtet Nina. „Die Situation war ja sehr bedrohlich und sicherlich hatten sie alle Angst. ‚Na, wir sind da eben so rumgelaufen‘, hat er nur gesagt.“ Endlich sicher in Dänemark gelandet, wurde die Familie wie viele andere deutsche Flüchtlinge in Dänemark nach Kriegsende in ein Internierungslager eingesperrt. Auch dort habe der Vater schlimme Sachen mit ansehen müssen, Erschießungen zum Beispiel. Doch auch darüber spreche er kaum. „Es ist schwer zu beschreiben, wie es während dieser Zeit in ihm ausgesehen haben mag“, findetNina. „Diese Empfindungen sind tief in ihm vergraben, er kann sie nicht artikulieren.“
Nach diversen Umwegen landete die Familie schließlich im Ruhrgebiet, wo sich der Vater im Bergbau verdingte, um schnell Geld zu verdienen. Dort lernte er Ninas Mutter kennen, die 1933 in einem bayrischen Dorf geboren worden war und dort den Krieg als nicht ganz so bedrohlich erlebt hatte. Dennoch war auch ihr Leben belastet: Sie war schwanger aus einer vorigen unehelichen Beziehung. Die Eltern heirateten trotzdem und zogen nach Hagen, wo sie das erste Kind gemeinsam aufzogen und noch zwei weitere Kinder bekamen, Nina und ihren jüngeren Bruder.
Die Ehe der Eltern wurde zunehmend unglücklich. „Meine ganze Kindheit und Pubertät hindurch haben meine Eltern sich gestritten“, erinnert sich Nina. „Weihnachten war ein Horrortrip, die Wochenenden schrecklich, die Ferien und Urlaube fürchterlich. Ob das nun der Tatsache geschuldet war, dass sie im Krieg aufgewachsen sind, weiß ich nicht. Ich denke, es lag auch daran, dass sie keine Ausbildungen hatten machen können und nur wenige Chancen hatten. Obwohl man dann wieder sagen muss: Doch, das hatte mit dem Krieg zu tun. Wenn mein Vater nicht hätte flüchten müssen, sondern die Schule hätte beenden können, hätte er andere Möglichkeiten
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