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Wir Kinder der Kriegskinder

Wir Kinder der Kriegskinder

Titel: Wir Kinder der Kriegskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Ev Ustorf
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gehabt, sich zu entwickeln. Wer weiß, was dann aus ihm geworden wäre.“
    Als Nina in die Pubertät kam und mit 16, 17 Jahren begann, abends auszugehen, veränderte sich die gute Beziehung zum Vater dramatisch und er fing an, seiner Tochter strenge Vorschriften zu machen: Er verbot ihr, Partys zu besuchen, hatte Angst, dass ihr etwas passieren könne. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen, bisweilen sogar zu Handgreiflichkeiten. „Er hat mir dauernd unterstellt, dass ich mich in Gefahr brächte mit meinem Verhalten, dass ich naiv wäre, dass ich nicht wüsste, welchen Situationen ich mich aussetze“, erinnert sich Nina. „Damals habeich das als Misstrauensvotum verstanden. Erst später habe ich dann begriffen, dass etwas ganz anderes dahintersteckt. Dass diese Ängste vielmehr mit seinen Erfahrungen auf der Flucht zu tun haben.“
    Als die einzige Tochter in die Pubertät kam, reaktivierte dies offenbar die eigenen Missbrauchserfahrungen des Vaters. Doch da er sich nicht an sie erinnerte, begann er zu agieren und projizierte seine unbearbeiteten Ängste auf die Tochter. Bei Nina wiederum führten diese Ängste zu großer Verunsicherung. Unbewusst identifizierte sie sich mit der erlebten Ohnmacht des Vaters und hatte große Probleme, sich Jungs oder Männern gegenüber abzugrenzen. „Es gab die eine oder andere Situation, gerade als Teenager, in der ich nicht die Sicherheit hatte, Nein zu sagen, obwohl ich es eigentlich gewollt hätte“, berichtet sie. „Mein Vater hatte eine Opfer-Wahrnehmung in Bezug auf sich selbst ... und die hatte ich auch. Er hat ja nicht etwa zu mir gesagt: ‚Wenn du mit einem Jungen zusammen bist und ihr knutscht und du merkst plötzlich, dass du nicht weitermachen möchtest, dann sagst du einfach Nein. Das ist dein gutes Recht.‘ Sondern er sagte: ‚Dann bist du auf der Party und dann schnappen die Jungs dich und schmeißen dich auf die Couch und dann kannst du nichts mehr machen.‘ Dass man Würde hat und selbstständig entscheiden kann, was man möchte und was man nicht möchte – das konnte er mir nicht vermitteln.“
    Bis weit in ihre 20er fühlte sich Nina in Beziehungen zu Männern verunsichert und konnte nur schwer Grenzen setzen. Erst nach einer intensiven Phase der Selbstauseinandersetzung gelang es ihr, sich aus diesem Muster zu lösen. „Oft war ich auf der Suche nach Nähe und bekam stattdessen Sex, weil ich nicht in der Lage war, zu sagen: Das will ich nicht“, erinnert sie sich. „Eigentlich habe ich das erst in meiner Psychoanalyse gelernt. Meine Therapeutin hat mir sehr geholfen. Sie sagte irgendwann zu mir: ‚Vermutlich hat es sich direkt auf Sie ausgewirkt, dass Ihr Vater und auch Ihre Tante im Krieg durch sexuelle Übergriffetraumatisiert wurden. Diese Ohnmachtserfahrungen wurden an Sie weitergegeben.‘ Mich davon zu lösen, ist ein hartes Stück Arbeit. Und dieser Lernprozess ist noch immer nicht ganz abgeschlossen.“
    traumatisiert wurden. Diese Ohnmachtserfahrungen wurden an Sie weitergegeben.‘ Mich davon zu lösen, ist ein hartes Stück Arbeit. Und dieser Lernprozess ist noch immer nicht ganz abgeschlossen.“

    In der Therapie fand Nina die Zeit und den Raum, Frieden mit ihren Eltern zu schließen. „Ich habe verstanden, warum sie so sind, wie sie sind, und habe es jetzt nicht mehr nötig, mich so mit ihnen abzukämpfen“, meint sie. Nina hofft vor allem, dass die Therapie auch eine gute Wirkung auf die Beziehung zu ihrer 14-jährigen Tochter haben wird. Als alleinerziehende Mutter spürt sie eine besondere Verantwortung, darauf achten zu müssen, dass sich ihre Geschichte nicht bei ihrem Kind wiederholt. „Es fällt mir jetzt leichter, meine Tochter, unklar und unsicher, wie sie in ihrem Alter oft ist, ernst zu nehmen und zu respektieren“, erzählt sie. „Vorher habe ich eher so reagiert wie mein Vater – sie angeschrien, wenn ich von ihr überfordert war. Das will ich nicht mehr. Ein anderes Ergebnis meiner Analyse ist, dass ich meine schwachen, empfindsamen Seiten nun besser wahrnehmen kann. Und mich heute eher nach Männern umsehe, die etwas fürsorglicher sind.“

6. Ein schwieriges Erbe
Wenn die Last der Geschichte besonders schwer ist
    Wohl kaum ein Schriftsteller beschrieb die Verzweiflung und Aussichtslosigkeit vieler junger Menschen im Deutschland der „Stunde Null“ besser als Wolfgang Borchert. „Wir sind die Generation ohne Glück, ohne Heimat und ohne Abschied“, beobachtete der 1921 geborene Borchert. „Wir sind die

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