Wir Kinder Vom Bahnhof Zoo
obwohl ich mittlerweile schon das Geburtsdatum in meinem Schülerausweis gefälscht hatte.
Ich wusste, am Sound war die Szene. Da gab es alles zu kaufen. Vom Shit über Mandrax und Valium bis zum Heroin. Da waren also unheimlich coole Typen, dachte ich mir. Das war so ein Traumplatz für mich kleines Mädchen, das immer zwischen Rudow und Gropiusstadt hin-und herpendelte. Das Sound stellte ich mir wie einen richtigen Palast vor. Glitzer hier, Glitzer da. Wahnsinnige Lichteffekte und die geilste Musik. Und eben wahnsinnig coole Typen.
Ich hatte schon ein paar Mal geplant, mit den anderen mitzugehen. Aber es hatte nie geklappt. Nun machte ich mit Kessi einen genauen Schlachtplan. An einem Samstag erzählte ich meiner Mutter, dass ich bei Kessi schlafen wollte. Und Kessi erzählte bei sich, sie schlafe bei mir. Unsere Mütter fielen darauf rein. Eine Freundin von Kessi sollte auch noch mitkommen. Die war etwas älter als wir und hieß Peggy. Wir trafen uns am Samstagabend bei Peggy. Wir warteten auf Peggys Freund, Micha. Kessi erzählte mir sehr wichtig, dass Micha auf H war, also Heroin drückte. Ich war ganz gespannt, ihn kennenzulernen. Denn ich hatte bewusst noch nie einen Fixer erlebt.
Als Micha kam, war ich sehr beeindruckt von ihm. Er war irgendwie noch cooler als die Typen in unserer Clique. Aber ich hatte sofort wieder Minderwertigkeitskomplexe. Micha behandelte uns sehr von oben herab. Ich dachte mal wieder daran, dass ich erst 13 war und dass dieser Fixer viel zu weit, viel zu erwachsen für mich war. Ich fühlte mich unterlegen.
Übrigens war Micha ein paar Monate später schon tot.
Wir stiegen in die U-Bahn und fuhren bis zum U-Bahnhof Kurfürstenstraße. Das war damals für mich eine ziemlich lange Fahrt. Ich fühlte mich sehr weit weg von zu Hause. Die Kurfürstenstraße bei der Kreuzung Potsdamer sah ziemlich mies aus. Da hingen Mädchen rum. Ich hatte natürlich keine Ahnung, dass die auf den Autostrich gingen. Ein paar Typen latschten auch auf und ab. Peggy sagte, das seien Dealer. Wenn mir jetzt jemand gesagt hätte, dass ich auf diesem miesen Stück Kurfürstenstraße auch einmal fast jeden Tag rumhängen würde, hätte ich ihn für verrückt erklärt.
Wir gingen ins Sound. Als ich drin war, traf mich fast der Schlag. Das hatte nichts mit dem zu tun, was ich mir vorgestellt hatte. »Europas modernste Diskothek« war ein Keller mit einer sehr niedrigen Decke. Es war laut und dreckig. Auf der Tanzfläche hottete jeder für sich einen ab. Es gab irgendwie überhaupt keinen Kontakt zwischen den Menschen. Es war unheimlich miefig. Eine Windmaschine quirlte den Mief ab und zu durcheinander.
Ich setzte mich auf eine Bank und wagte nicht mehr, mich zu rühren. Ich hatte das Gefühl, dass mich die Leute anstarrten, weil sie merkten, dass ich hier nicht reingehörte. Ich war jedenfalls der totale Außenseiter. Kessi packte es sofort. Sie rannte die ganze Zeit rum und guckte nach starken Jungen. Sie meinte, sie hätte noch nie so viele starke Typen auf einem Haufen gesehen. Ich saß wie angewachsen. Die anderen hatten irgendwelche Pillen mit und tranken Bier. Ich wollte nichts. Ich hielt mich die ganze Nacht an zwei Gläsern Pfirsichsaft fest. Am liebsten wäre ich nach Hause gefahren. Aber das ging ja nicht, weil meine Mutter dachte, ich schlafe bei Kessi. Ich wartete nur, dass es fünf Uhr morgens werden würde und der Laden dichtmachte. Einen Moment wünschte ich mir, dass meine Mutter mir auf die Schliche gekommen wäre und plötzlich neben mir stünde und mich mit nach Hause nähme. Dann schlief ich ein.
Die anderen weckten mich um fünf. Kessi sagte, sie ginge mit Peggy nach Haus. Ich hatte wahnsinnige Bauchschmerzen. Niemand kümmerte sich um mich. Ich ging allein morgens um fünf die Kurfürstenstraße rauf zum U-Bahnhof. In der U-Bahn waren viele Besoffene. Ich fühlte mich zum Kotzen.
Seit langer Zeit war ich nicht mehr so froh, als ich die Tür zu unserer Haustür aufschloss und meine Mutter aus dem Schlafzimmer kommen sah. Ich sagte ihr, Kessi sei schon so früh aufgewacht und da wäre ich nach Hause gegangen, um in Ruhe ausschlafen zu können. Ich holte meine beiden Katzen zu mir ins Bett und kuschelte mich ein. Vor dem Einschlafen dachte ich noch: Christiane, das ist nicht deine Welt. Du machst irgendwas falsch.
Als ich mittags aufwachte, ging es mir noch immer schlecht. Ich hatte das Bedürfnis, mit jemandem über das zu reden, was ich erlebt hatte. Ich wusste, das würde niemand aus
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