Wir Kinder Vom Bahnhof Zoo
Vorwurf. Ich habe die Kinder viel zu häufig sich selbst überlassen. Und Christiane hätte sicherlich mehr Halt gebraucht, mehr Führung. Sie ist nun mal labiler und empfindlicher als ihre jüngere Schwester. Damals habe ich nicht im entferntesten daran gedacht, dass Christiane auf die schiefe Bahn geraten könnte. Obwohl ich sah, was sich in den Familien in dieser Trabantenstadt, wo wir wohnten, täglich abspielte. Da gab es Schlägereien am laufenden Band. Es wurde maßlos viel Alkohol getrunken und nicht selten lag eine Frau oder ein Mann oder ein Jugendlicher betrunken im Rinnstein. Aber ich bildete mir ein, wenn du deinen Kindern ein Beispiel bist, wenn du nicht rumschlampst und dich nicht gehen lässt, werden sie sich das doch zum Vorbild nehmen.
Ich dachte wirklich, jetzt geht es aufwärts. Vormittags gingen die Kinder zur Schule. Mittags machten sie sich ihr Essen selbst. Und nachmittags gingen sie oft auf den Ponyhof in der Lippschitzallee. Sie sind ja beide sehr tierlieb.
Das ging auch eine ganze Weile gut. Abgesehen von kleinen Eifersüchteleien zwischen den Kindern und Klaus, meinem Freund, der inzwischen bei uns wohnte. Außer meiner Arbeit, dem Haushalt und den Kindern hatte ich ja auch ihn, für den ich da sein wollte. Er war für mich so etwas wie ein ruhender Pol. Und da machte ich wohl noch einen gravierenden Fehler aus dem Wunsch heraus, mich meinem Freund mehr widmen zu können: Ich erlaubte Christianes Schwester, zu ihrem Vater zu ziehen, der sie mit allen möglichen Versprechungen zu sich gelockt hatte, weil er sich einsam fühlte.
Christiane war nun allein, wenn sie aus der Schule nach Hause kam. Zu diesem Zeitpunkt ist sie an Freunde geraten, die ihr zum Verhängnis wurden. Aber ich hatte dafür keinen Blick. Kessi, ihre Schulfreundin aus der Nachbarschaft, mit der sie nachmittags oft zusammen war, schien mir schon sehr vernünftig zu sein. Und Kessis Mutter warf ab und zu ein Auge auf die beiden. Mal war Christiane bei Kessi, mal war Kessi bei uns.
Die waren beide in einem Alter, so zwölf, dreizehn, wo man neugierig wird und alles einmal ausprobieren will. Und ich fand nichts dabei, wenn sie abends in den Jugendclub im »Haus der Mitte« gingen, einer Einrichtung des evangelischen Zentrums in Gropiusstadt. Ich war natürlich sicher, dass Christiane bei den Kirchenleuten in guten Händen war. Dass die Jugendlichen im Haus der Mitte Haschisch rauchen durften, darauf wäre ich im Traum nie gekommen.
Im Gegenteil, ich war beruhigt, dass Christiane sich zu einem fröhlichen Teenager entwickelte und nicht mehr so oft ihrer Schwester nachtrauerte. Seit sie Kessi zur Freundin hatte, lachte sie auch wieder öfter. Manchmal waren die beiden so ausgelassen albern, dass ich mitlachen musste. Woher sollte ich auch wissen, dass ihre Lachanfälle von Haschisch oder irgendwelchen Rauschgift-Tabletten ausgelöst wurden.
Meine Familie war die Clique. Da gab es so was wie Freundschaft, Zärtlichkeit und irgendwie auch Liebe. Schon der Kuss bei der Begrüßung gefiel mir eben wahnsinnig. Jeder küsste jeden zärtlich und freundschaftlich. Mein Vater hatte mich nie so geküsst. Probleme gab es in der Clique nicht. Wir redeten nie über unsere Probleme. Keiner belästigte den anderen mit seinem Scheiß zu Hause oder auf der Arbeit. Wenn wir zusammen waren, gab es für uns die miese Welt der anderen gar nicht. Wir redeten über Musik und Dope. Manchmal über Kleidung und manchmal über Leute, die der Bullengesellschaft in den Hintern traten. Wir fanden jeden gut, der einen Bruch macht, ein Auto klaut oder eine Bank ausraubt.
Nach dem Trip fühlte ich mich echt wie die anderen aus der Clique. Der Trip war unheimlich Schau gewesen. Ich war froh, dass ich nicht auf Horror gekommen war. Die meisten kommen bei der ersten Pille auf einen Horrortrip. Aber ich hatte das ganz cool durchgestanden. Ich fühlte mich bestätigt. Ich nahm die Pille jetzt, wenn ich sie bekam.
Ich kriegte zu allem ein ganz neues Verhältnis. Ich ging auch wieder in die Natur. Früher war ich mit meinem Hund in die Natur gegangen und hatte auch irgendwie durch den Hund die Natur erlebt. Nun zog ich vorher eine Pfeife durch, wenn ich nicht auf Pille war. Ich erlebte eine ganz andere Natur. Die war nicht mehr so, wie sie war. Die löste sich auf in Farben, Formen und Geräusche, die sich in meinen Stimmungen spiegelten. Ich fand das Leben, das ich führte, einfach unheimlich cool. Es kamen ein paar Monate, da war ich meistens mit mir selber
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