Wir Kinder Vom Bahnhof Zoo
Arm. Für mich war das Beschütztwerden. Atze war 16 und machte eine Glaserlehre, die ihn unheimlich anstank. Er hatte ganz bestimmte Vorstellungen, wie ein cooles Mädchen aussehen sollte. Ich kämmte mir die Haare so, wie er es wollte. Weil er auf Mäntel stand, kaufte ich mir für 20 Mark in einem Trödel einen langen Mantel mit einem Schlitz bis zum Po. Ich konnte mir das Leben ohne Atze nicht mehr vorstellen.
Ich ging jetzt, wenn das Sound um fünf zumachte, nicht mehr gleich nach Hause. Ich blieb mit der Clique zusammen. Wir kamen gemeinsam von unseren Törns runter und verbummelten den Vormittag irgendwie in der Stadt. Wir gingen zu Ausstellungen, in den Zoo oder auf den Kurfürstendamm. Manchmal blieben wir noch den ganzen Sonntag zusammen. Meiner Mutter erzählte ich die Kessi-Geschichte und erfand neue Freundinnen dazu, bei denen ich angeblich schlief. Ich entwickelte eine unwahrscheinliche Fantasie, wenn es darum ging, meiner Mutter zu erzählen, wo und wie ich die Wochenenden verbrachte.
An den Wochentagen sah ich noch immer die alte Clique im Haus der Mitte. Ich saß immer ganz geheimnisvoll etwas abseits. Manchmal erzählte ich, was ich im Sound erlebt hatte. Ich glaubte, dass die mich jetzt schon bewunderten. Ich war einfach einen Schritt weiter als sie. Dass es ein Schritt weiter in die totale Scheiße war, wusste ich nicht. Und dass mir viele aus der alten Clique etwas später folgen würden, auch nicht.
Auf der Szene am Sound gab es alles an Drogen. Ich nahm alles an Drogen bis auf H. Valium, Mandrax, Ephedrin, Cappis, also Captagon, natürlich jede Menge Shit und wenigstens zweimal die Woche einen Trip. Aufputsch-und Schlafmittel schmissen wir mittlerweile gleich handvoll rein. Die Pillen lieferten sich im Körper einen wahnsinnigen Kampf und das gab das geile Feeling. Man konnte sich Stimmungen machen, wie man Bock hatte. Man konnte entweder mehr Aufputscher oder mehr Beruhigungspillen fressen. Wenn ich also Bock hatte, im Sound abzuhotten, dann schluckte ich mehr Cappis und Ephedrin, wenn ich nur ruhig in der Ecke sitzen wollte oder im Sound-Kino, dann schmiss ich ordentlich Valium und Mandrax ein. Ich war mal wieder ein paar Wochen rundum glücklich.
Bis zu diesem total miesen Samstag. Ich kam ins Sound und traf Uwe, einen aus der Clique, auf der Treppe. Uwe sagte: »Weißt du schon, Atze hat seinen Job geschmissen.« Uwe war einen Moment still und sagte dann: »Atze ist jetzt jeden Abend hier.« Er sagte das irgendwie komisch und ich schaltete auch sofort. Wenn Atze jeden Tag im Sound war, dann musste er auch andere Mädchen kennengelernt haben.
Ich fragte: »Ist was mit Atze?«
Und Uwe antwortete: »Der hat eine Braut. Moni.«
Es war ein furchtbarer Schlag, als Uwe das sagte. Ich habe nur noch gehofft, das sei nicht wahr. Ich lief runter in die Diskothek. Atze stand allein rum. Es war wie immer. Er gab mir einen Kuss und schloss dann meine Sachen mit in sein Schließfach ein. Man schließt im Sound immer seine Sachen in einem Schließfach ein, weil da wahnsinnig geklaut wird.
Etwas später kam diese Moni, die ich vorher noch nie bewusst gesehen hatte. Sie setzte sich ganz selbstverständlich zur Clique. Ich hielt mich etwas abseits und beobachtete sie heimlich unentwegt.
Sie war ganz anders als ich. Klein und mollig und sie tat immer lustig. Sie schien Atze regelrecht zu bemuttern. Ich dachte immer wieder: »Das kann nicht wahr sein. Der kann mich doch nicht wegen dieser dicken, albernen Braut sitzenlassen.« Ich musste mir eingestehen, dass sie ein sehr hübsches Gesicht und sehr schöne, sehr lange blonde Haare hatte. Und ich dachte: Vielleicht braucht er so ein Mädchen, das immer den Gutgelaunten macht und ihn bemuttert. Ein anderer Verdacht wurde bei mir immer stärker: Atze braucht ein Mädchen, mit dem er ins Bett gehen kann. Die ist so eine, die mit ihm ins Bett geht.
Ich war total nüchtern. Ich wollte auch nichts nehmen an diesem Abend. Als ich es nicht mehr ertragen konnte, die beiden zu beobachten, ging ich auf die Tanzfläche, um einfach abzuhotten. Als ich zurückkam, waren die beiden verschwunden. Ich rannte wie eine Wahnsinnige durch den Laden. Ich fand Atze und Moni im Kino. Eng umschlungen.
Ich bin irgendwie zurückgekommen zur Clique. Einer merkte sofort, was mit mir los war. Detlef. Er legte mir den Arm um die Schulter. Ich wollte nicht heulen. Ich dachte immer, es sei wahnsinnig kitschig, vor der Clique zu heulen. Ich weiß nicht, wie ich auf kitschig kam. Als
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