Wir Kinder Vom Bahnhof Zoo
Freundin, eine Schwesternschülerin, wollte ihm helfen: vergeblich. In der Wohnung in Tiergarten, die sein Vater dem jungen Paar für mehrere Tausend Mark eingerichtet hatte, setzte sich der junge Mann den ›Todesschuss‹ …«
Ich schnallte das alles nicht sofort, weil ich es nicht glauben wollte. Aber es passte doch zu lückenlos zusammen: Wohnung, Glaserlehrling, Freundin, Andreas W. Also Andreas Wiczorek, den wir Atze genannt hatten.
Ich dachte erst nur: Scheiße. Ich hatte eine ganz trockene Kehle und dann wurde mir auch schlecht. Ich dachte, das kann doch nicht wahr sein, dass Atze sich den Goldenen Schuss gesetzt hat. Ausgerechnet Atze, der so cool mit dem Dope umging. Ich wollte meiner Mutter nicht zeigen, wie mich diese Zeitungsmeldung fertigmachte. Sie hatte ja keine Ahnung, dass ich schon wieder drauf war. Ich nahm die Zeitung und ging in mein Zimmer.
Ich hatte Atze eine Zeit lang nicht gesehen. Jetzt las ich in der Zeitung, was mit ihm in den letzten Tagen passiert war. Er hatte schon eine Woche vorher zu viel gedrückt und war ins Krankenhaus gekommen. Seine Freundin Simone hatte sich danach die Pulsadern aufgeschnitten. Beide waren gerettet worden. Am Tag vor seinem Tod war er zur Polizei gegangen und hatte alle Dealer verpfiffen, die er kannte, auch zwei Mädchen, die nur »die Zwillinge« hießen und immer astreines Dope hatten. Dann hatte er noch einen Abschiedsbrief geschrieben, der auch in der Zeitung abgedruckt war: »Ich werde jetzt mein Leben beenden, weil ein Fixer allen Verwandten und Freunden Ärger, Sorgen, Bitternis und Verzweiflung bringt. Er macht nicht nur sich selbst kaputt, sondern auch andere. Dank meinen lieben Eltern und meiner kleinen Omi. Körperlich bin ich eine Null. Fixer sein ist immer der letzte Dreck. Aber wer treibt die Leute, die jung, voller Lebenskraft auf die Welt kommen, ins Unglück? Es soll ein Warnbrief sein für alle, die mal vor der Entscheidung stehen: Na, versuche ich es mal? Ihr Dummköpfe seht es doch an mir. Jetzt hast du keine Sorgen mehr, Simone, leb wohl.«
Ich lag in meinem Bett und dachte: Das war also dein erster Freund. Im Sarg. Ich konnte nicht mal weinen. Ich war zu gar keinen richtigen Gefühlen fähig.
Als ich am nächsten Nachmittag auf die Szene ging, weinte niemand um Atze. Auf der Szene wird nicht geweint. Aber unheimlich sauer waren einige Leute auf Atze. Weil er ordentliche Dealer verpfiffen hatte, die astreines Dope verkauften und nun schon im Knast saßen, und weil er einer Menge Leuten noch eine Menge Geld schuldete.
Das Wahnsinnigste an der ganzen Geschichte mit Atze war, dass seine Freundin Simone, die noch nie in ihrem Leben H genommen hatte und Atze immer runterbringen wollte, eine Woche nach Atzes Tod selber anfing zu drücken. Ein paar Wochen später hatte sie ihren Job als Schwesternschülerin geschmissen und ging anschaffen.
Lufo starb ein knappes Jahr später im Januar 1978 an einer Überdosis H.
Mit Atzes Tod war das ganze gute Feeling, ein Fixerstar zu sein, der mit dem Dope umgehen konnte, weg. In unserer Clique, zu der Atze ja Kontakt gehabt hatte, kamen Angst und Misstrauen auf. Wenn wir uns früher zusammen einen Druck gemacht hatten und nicht genügend Spritzen da waren, hatte jeder immer der Erste sein wollen. Nun wollte plötzlich jeder der Zweite sein. Niemand sprach darüber, dass er Angst hatte. Aber das war die totale Angst davor, dass der Stoff zu rein, zu stark war oder aber mit Strychnin oder anderem Gift gepanscht war. Denn man konnte nicht nur an einer Überdosis sterben, sondern auch an zu reinem oder zu schmutzigem Dope.
Es war also alles wieder echt scheiße. Es war im Grunde so, wie es in Atzes Abschiedsbrief stand. Ich machte inzwischen auch meine Mutter mit kaputt. Ich kam wieder nach Hause, wann ich wollte. Und meine Mutter war immer noch wach, wenn ich kam. Und wenn ich dann da war, schluckte sie erst mal ein paar Valium, um überhaupt noch etwas schlafen zu können. Ich glaube, sie hielt das nur noch mit Valium durch.
Ich war mir immer sicherer, dass es mit mir enden würde wie mit Atze. Manchmal hatte ich noch so kleine Hoffnungen, an die ich mich klammerte. Sogar in der Schule. Da war ein Lehrer, den ich irgendwie mochte, der Herr Mücke. Mit ihm spielten wir Situationen durch, vor die ein Jugendlicher gestellt wird. Zum Beispiel ein Einstellungsgespräch. Einer spielte den Chef, der andere den Stellungssuchenden. Ich ließ mir bei diesem Spiel von dem Chef jedenfalls nichts sagen. Ich
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