Wir Kinder von Bergen-Belsen
einen wunderbaren Handspiegel mit einem rosafarbenen Rand. Lauter Applaus erfüllte den Raum und alle sangen »For she's a jolly good fellow«. Ich war nie zuvor öffentlich gelobt worden und wusste nicht, wohin ich schauen oder was ich sagen sollte. Es war zehn Uhr, die Lichter gingen aus und die Feier war vorüber.
Weihnachten kam und ging vorbei. Das Jahr 1944 brach an. Was würde es uns bringen? Jeder hoffte, dass unser Elend in diesem Jahr aufhören würde. Während der festlichen Zeit hatte es keine Transporte gegeben, aber wir wussten, dass es jetzt nicht mehr lange dauern würde.
Am 10. Januar 1944 ging ein erster Transport mit etwa achthundert Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft aus dem Lager Westerbork nach Bergen-Belsen. Am 1. Februar standen unsere Namen auf der Liste für dieses Lager.
An diesem Abend wurden wir mit ungefähr tausendeinhundert Menschen zum Zug gebracht. Überraschenderweise war es ein Personenzug — wenn auch kein Pullman. Wir verließen Westerbork gegen zehn Uhr und fuhren die ganze Nacht. Ganz Deutschland war verdunkelt und wir konnten draußen nichts erkennen. An einem großen Bahnhof blieben wir mitten in der Nacht für ungefähr vier Stunden stehen. Dann ging es weiter. Als der Morgen graute, konnten wir ein bisschen von der Landschaft sehen. Wir hatten versucht, während der Fahrt ein wenig zu schlafen, aber es war unmöglich. Die Unsicherheit, wie unser Schicksal aussehen würde, hielt uns wach.
Der Zug wurde langsamer und blieb stehen. Auf einem Schild stand »Celle«. Neugierig schauten wir aus dem Fenster und ich hörte Papa erschrocken ausrufen: »Gott stehe uns bei!« Auf dem Bahnsteig standen etwa dreißig SS-Männer mit Bluthunden an der Leine.
»Raus!«, schrie jemand.
Verwirrt stiegen wir aus.
»Alles Gepäck hier lassen, außer Handgepäck, und aufstellen«, rief ein SS-Offizier.
Es bildete sich eine lange Schlange. Mütter hielten ihre Kinder an den Händen. Einige der Männer wurden aufgefordert, vorzutreten, unter ihnen war mein Vater. Man befahl ihnen, das Gepäck auf Lastwagen zu laden. Die lange Menschenkolonne setzte sich in Bewegung. Ich konnte eine schmale Brücke über die Bahngleise sehen, und obwohl es noch früh am Morgen war, schauten einige Bewohner der Stadt, meist Männer, zu, wie wir vorbeizogen. Wir liefen und liefen und liefen. Wir hatten unser Gepäck zurücklassen müssen, ohne zu wissen, ob wir es je wiedersehen würden. Deshalb hatten wir alle irgendwelche Taschen dabei. Sie wurden bei dem langen Marsch schwer wie Blei. Jackie, der nie sehr kräftig gewesen war, trug einen kleinen Rucksack. Jetzt wurde er grün um die Nase vor Erschöpfung. Als ich sah, in welchem Zustand er war, wandte ich mich an einen
Mann, der gar nichts trug und das Laufen sogar zu genießen schien.
»Bitte, könnten Sie so freundlich sein und den Rucksack meines kleinen Bruders für eine Weile tragen?«, bat ich. »Er ist erst neun Jahre alt.«
»Ihr seid jetzt nicht mehr in Holland, sondern bei uns«, brummte der Mann und sah dabei von seiner Höhe von über Einsachtzig auf mich herab. »Hier habt ihr mir gar nichts zu befehlen, tragt euer Gepäck gefälligst selbst.« Offenbar war er einer der deutschen Flüchtlinge, die Ende der 30er-Jahre in den Niederlanden aufgenommen worden waren. Später dann brachten ihn seine eigenen Landsleute um, denn ich erinnere mich, das er einer der Ersten war, die in Bergen-Belsen an Hunger starben.
Ich forderte Jack auf, mir seinen Rucksack zu geben, und Mama und ich trugen ihn dann jeweils an einem Riemen zwischen uns. Mühsam schleppten wir uns vorwärts, die Menschenschlange wurde langsamer. Hinter uns hörten wir SS-Männer schreien: »Schneller, los!« Ich schaute über die Schulter und konnte am Ende der Schlange zwei ältere Menschen sehen, die sich gegenseitig stützten und mit ihrem Gepäck vorwärts stolperten. Die Frau weinte und der Mann fragte den SS-Offizier etwas. Daraufhin richtete der Bewacher sein Gewehr auf das Paar und rief: »Weiter! Weiter!« Ein junger Mann ging zu den beiden erschöpften alten Leuten und übernahm ihr Gepäck, um ihnen das Laufen zu erleichtern.
Wohin gingen wir? Würden wir je ankommen? Wie lang würde es noch dauern? Lieber Gott, hilf uns! Zum Glück war die Straße asphaltiert, was wirklich ein Segen war. Unterwegs sahen wir niemanden, keine Autos, keine Menschen, nur die Bewacher mit ihren Hunden. Wären die Umstände nicht so schrecklich gewesen, hätten wir die Schönheit
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