Wir Kinder von Bergen-Belsen
dass wir sie nackt sahen, und wir mussten wohl oder übel akzeptieren, dass unsere eigenen Hemmungen hier keine Rolle spielen würden. Wir konnten es zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen, aber jenes Ereignis war der Beginn eines Werteverfalls, den wir in den kommenden Monaten in Bergen-Belsen immer stärker erleben sollten.
Als wir wieder in der Baracke waren, sagte man uns, dass schwarzer Kaffee gekommen sei. Wir probierten ihn. Er schmeckte schrecklich und war nichts anderes als braunes Wasser. Zu essen gab es nichts, daher mussten wir etwas aus unserem Schrank nehmen. Max und Papa kamen um neun Uhr. Ihre Baracke sei voll belegt, sagten sie, auch der Oberrabbiner sei in Baracke 14. Am Morgen hatten sich diejenigen, die ihre religiösen Gebräuche einhielten, zu einem geheimen Gottesdienst versammelt. Auch sie hatten diesen schwarzen Kaffee bekommen, und wir waren alle der Meinung, dass er eklig schmecke. Irgendwie gelang es Mama, Wasser heiß zu bekommen, und sie machte uns eine Tasse Tee. Papa und Max bekamen ein paar Kekse, wir hatten unsere bereits vorher gegessen. Mama und Papa machten mit unserer Barackenältesten aus, dass Papa und Max ihre tägliche Ration hier bei uns bekommen würden, so könnten wir als Familie zusammenhalten.
Einige Tage lang ließ uns die SS in Ruhe. Jeder versuchte, sich physisch und mental an den Alltag in Bergen-Belsen zu gewöhnen. Nach ungefähr drei Tagen teilte uns die Barackenälteste mit, dass wir am nächsten Morgen um Punkt sieben alle zum Anwesenheitsappell auf dem Appellplatz erscheinen müssten. Also standen wir um sechs Uhr auf, wuschen uns schnell und zogen uns so warm an, wie wir konnten. Dann gingen wir zum Essraum, wo wir einen Becher braune Brühe erhielten, die Kaffee oder Tee sein sollte. (Unsere Brotration bekamen wir zum Mittagessen, zusammen mit einem Napf Suppe. Die Suppe war ein halber Liter warmes, bräunliches Wasser, in dem ein paar Karotten oder ein bisschen Kraut schwammen.)
Um halb sieben riefen die Melder: »Alle zum Appell.«
Alle, die laufen konnten, sogar dreijährige Kinder, mussten auf dem Appellplatz erscheinen, um gezählt zu werden. Dort hieß es in Fünferreihen zu stehen, und wenn der Scharführer zum Zählen kam, hatten wir stramm zu stehen, mit erhobenen Köpfen und geradeaus gerichteten Augen. Bewegungslos und mucksmäuschenstill.
Das Chaos, das an jenem Morgen und an vielen weiteren Tagen herrschte, war unbeschreiblich. Wir waren nicht daran gewöhnt, in Reih und Glied zu stehen wie bei der Armee, wir waren auch nicht daran gewöhnt, wie Kriminelle gezählt zu werden. Aber an diesem Morgen hatten wir Glück. Entweder standen wir endlich einigermaßen korrekt oder die SS hatte etwas anderes zu tun, jedenfalls wurden wir nach anderthalb Stunden entlassen. Am folgenden Tag waren wir weniger glücklich, diesmal dauerte der Appell zwei Stunden. Bald fanden wir heraus, dass uns die SS, wenn wir ihren Standards nicht entsprachen, stundenlang stehen ließ. Die Barackenälteste versuchte verzweifelt, uns das Verhalten beizubringen, das die SS wünschte. Die qualvollen Stunden auf dem Appellplatz gingen nur langsam vorbei, und viele Gebete wurden ausgestoßen, vor allem von alten Menschen, die sich kaum mehr auf den Beinen halten konnten, und von Kindern, die vor Kälte und Hunger zitterten und deren Gesichter von Tag zu Tag kleiner wurden. Manchmal war unsere Mittagessenszeit schon vorbei, wenn die SS uns gehen ließ. Dann blies Herr Albala auf einer Pfeife, und die Musik eines philharmonischen Orchesters hätte nicht süßer klingen können. Nach dem Pfiff rannten wir, so schnell uns unsere Füße trugen, in unsere Baracken zurück. Unsere Betten waren unser Zuhause geworden, der einzige Platz, an dem wir uns ein bisschen sicher fühlten.
Wir waren etwa zwei Wochen in Bergen-Belsen, als die SS alle Männer ab fünfzehn Jahren um sechs Uhr zum Appell rief; sie sollten in Arbeitskolonnen eingeteilt werden. Zu den härtesten und gnadenlosesten Arbeiten gehörte es, in den Wäldern die Wurzeln von Bäumen zu roden. Mein Vater und der Oberrabbiner wurden dieser Kolonne zugeteilt. Sie verließen das Lager um sechs Uhr morgens und kamen am späten Nachmittag zurück. Am ersten Tag brachte mein Vater ein paar Beeren mit, die er in den Büschen gepflückt hatte. Er hatte seine Taschen gefüllt und leerte sie in einen unserer Suppennäpfe. Es war nicht viel, aber der Anblick der Beeren machte uns froh. Ich durfte als Erste eine probieren. Sie
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