Wir Kinder von Bergen-Belsen
Baracke übernommen und mit ihnen Girlanden aus buntem Papier und Klebstoff gebastelt, die Walter für mich organisiert hatte. Zum Beispiel bastelten wir Züge und Autos aus Streichholzschachteln. Die Kinder verbrachten eine wunderbare Zeit mit diesem Spielzeug, und die Mütter, die froh waren, sie ein paar Stunden am Tag versorgt zu wissen, versprachen, für Nikolaus Mehl und Zucker zu spenden, damit wir Plätzchen backen konnten. In der Baracke herrschte ein wohlwollender Geist. Erwachsene blieben an dem Tisch stehen, wo die Kleinen arbeiteten, und boten Ratschläge und Hilfe an. Der Stapel mit den kleinen Geschenken wuchs, bis für jedes Kind etwas da war. Es machte ihnen nichts aus, dass sie ihre Geschenke selbst gebastelt hatten.
Ein paar Tage vor Nikolaus ging ich zu Walter und fragte ihn, ob er vielleicht ein Klavier besorgen könne. Zu einer Feier gehöre nun mal Musik. Er versprach, sich darum zu kümmern. Am Tag vor Nikolaus wurde ich von einem der Lagerältesten zum deutschen Kommandanten gebracht, um ihn um die Erlaubnis zu bitten, das einzige Klavier des Lagers benutzen zu dürfen. Ich hatte große Angst, aber der alte Mann hielt meine Hand, während er auf Deutsch mit dem Kommandanten sprach und ihm erklärte, dass ich eine Feier ohne die Hilfe eines Erwachsenen organisiert hatte. Wir erwischten den Kommandan-ten offensichtlich bei guter Laune, denn als er zu mir sprach, lä-chelte er. Ich verstand kein deutsches Wort, deshalb schaute ich den Ältesten fragend an. Er machte sich nicht die Mühe, mir zu erklären, was gesagt wurde, flüsterte mir aber zu: »Sag >Danke, mein Herr, vielen Dank<.« Ich versuchte, die deutschen Worte so laut wie möglich zu wiederholen, dann waren wir wieder draußen, mit dem Versprechen, dass das Klavier am folgenden Nachmittag geholt werden könne. Walter war sehr glücklich, als wir ihm von unserem Erfolg berichteten, und überraschte mich mit einer weiteren guten Nachricht. Die Frauen der Baracke hatten sich an die Arbeit gemacht und eine Bischofsrobe und eine Mitra genäht. Einer der Väter würde als Nikolaus auf-treten. An diesem Abend gingen die Kinder um sieben Uhr ins Bett und bestimmt gab es nirgendwo in den Niederlanden bravere Kinder als sie. Sie wussten, dass Nikolaus böse Kinder, die zu spät ins Bett gingen, nicht mochte.
Am Morgen des 5. Dezember 1943 wurde viel gearbeitet. Einige Frauen backten Plätzchen, andere stellten Süßigkeiten her. Die Männer rückten die Pritschen zur Seite, um Platz für die Stühle zu machen. Der Raum wurde für den Nikolaus schön geschmückt und die bunten Girlanden der Kinder an die Decke gehängt. Alle waren aufgeregt. Um zwei Uhr kam das Klavier, von sechs kräftigen Männern durch das Lager getragen. Es kamen auch viele Gäste aus anderen Baracken zu uns. Abends um sechs saßen alle Kinder in ihren besten Kleidern da und warteten auf den großen Moment. Ein lautes Klopfen an der Tür verkündete die Ankunft des Nikolaus. »Das ist er, der Nikolaus«, flüsterten die Kinder aufgeregt und begannen zu singen. »Lieber, guter Nikolaus ...« Und die Erwachsenen stimmten mit ein. Im Eingang stand der heilige Nikolaus und er hatte den Schwarzen Piet dabei. Der trug einen großen Sack mit all den Geschenken. Die Kinder strahlten und ich freute mich über den Erfolg unserer gemeinsamen Arbeit. Um acht Uhr gingen die Kinder ins
Bett. Es hatte ihnen sehr gut gefallen, aber die Feier war noch nicht vorbei. Die Erwachsenen versammelten sich um das Klavier und begannen zu singen. Zum ersten Mal seit langer Zeit sahen sie glücklich aus. Um Viertel vor zehn stieg Walter auf einen Stuhl und bat um Ruhe.
»Meine Damen und Herren«, sagte er, »ich möchte einer jungen Dame in unserer Mitte danken, die uns heute, aus eigener Initiative und aus eigenem Entschluss, so viel Glück geschenkt hat. Aber hätten nicht alle Mütter mitgeholfen, wäre diese Feier kein Erfolg geworden, und ich bin froh, dass auch ich etwas habe beitragen können.« Er winkte mich zu sich. »Hetty, ich bin stolz darauf, dich zu kennen, und ich bin sicher, dass ich für alle hier spreche, wenn ich dir und deiner Familie wünsche, dass ihr diese schlimme Zeit heil und sicher übersteht und dass du zu einer wunderbaren jungen Frau aufwächst. Als Erinnerung an diesen Tag möchte ich dir diesen schönen Spiegel schenken, als Dank von uns allen, und ich wünsche dir, dass du dich selbst immer hübscher werden siehst.« Walter küsste mich auf beide Wangen und gab mir
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