Wir Kinder von Bergen-Belsen
brachte sie mir bei, wie man Betttücher gründlich auswrang. Unser Seifenvorrat, den wir mitgebracht hatten, war längst zu Ende, deshalb weichten wir die Wäsche in Salz ein. Wenn wir sie dann an der Leine hatten, setzte ich mich daneben, um aufzupassen, dass nichts gestohlen wurde.
Der Bereich um die Wäscheleine war menschenleer. Ich war die Einzige dort. Die Leute kümmern sich um nichts mehr, dachte ich. Ich saß auf dem Boden, mit dem Rücken gegen eine Stange gelehnt, etwa zehn Meter von dem gefährlichen Zaun mit dem Totenkopf und den gekreuzten Knochen entfernt, die jeden davor warnten, weiterzugehen. Ich konnte die SS-Männer in den Wachttürmen sehen, die mich, nachdem sie mir einen flüchtigen Blick zugeworfen hatten, völlig ignorierten. Ab und zu hörte ich, wie sie sich von einem Wachturm zum anderen etwas zuriefen, doch das war nur ein Geräusch in meinen Ohren.
Es war friedlich unter der Wäscheleine. Ich schaute zum blauen Himmel und sah eine kleine, weiße Wolke. Von weitem betrachtete ich die Lüneburger Heide, und als ich meinen Blick durch den Stacheldraht schweifen ließ, bemerkte ich einen Vogel hoch oben am Himmel und fühlte eine tiefe Sehnsucht nach Freiheit. Der Schmerz des Eingesperrtseins war fast unerträglich. Ich riss mich zusammen und stand auf, um zu fühlen, ob unsere Wäsche getrocknet war. Noch nicht. Wieder setzte ich mich hin und betrachtete die anderen Wäschestücke, die an der Leine hingen. Es waren nur drei: ein Büstenhalter, ein Unterhemd und ein Schlüpfer, der Menstruationsflecken aufwies. Seltsam, dachte ich, alle Frauen hatten bald nach ihrer Ankunft in Bergen-Belsen aufgehört zu menstruieren, auch ich hatte meine Tage nicht mehr bekommen und Mama ebenfalls nicht. Vielleicht war das gar nicht so schlecht, denn wie, in aller Welt, hätten wir es ohne Binden und Seife hinkriegen können, uns sauber zu halten? Ich konnte es mir nicht vorstellen und empfand tiefes Mitleid mit der Frau, die in dieser Situation mit einem zusätzlichen Problem fertig werden musste.
Es wurde allgemein angenommen, dass die SS unserem Essen Kampfer beimischte, um alle sexuellen Regungen in Männern und Frauen zu ersticken.
Die Wäsche war trocken. Ich nahm sie ab und ging zur Baracke zurück. Mama und ich machten die Betten mit zwar nicht ganz so sauberen, aber immerhin frisch gewaschenen Laken und abends übergaben wir auch Vater seine Bettwäsche.
Eines Tages erfuhren wir durch den Lagertelegraphen, dass der
Besuch von hochrangigen SS-Männern aus Berlin erwartet wurde. Unsere Barackenälteste bestätigte das später. Das ganze Lager wurde auf Hochglanz gebracht. Arthur Müller, genannt der »Rote Müller«, war der für diese Aktion verantwortliche Scharführer. Die Barackenälteste hatte uns mitgeteilt, dass in ein paar Tagen unsere Baracke kontrolliert werden würde. Wir bekamen gezeigt, wie wir unsere Betten jeden Morgen machen müssten, nämlich glatt und faltenlos, und nichts durfte unter der Decke versteckt oder aufgehoben werden. Für diejenigen, die einen Schrank hatten, war das nicht schlimm, aber wir, die ihn abgeben mussten, hatten damit Probleme. Die Koffer mit unseren Habseligkeiten waren am Fußende von Mamas Bett verstaut, damit sie unter ständiger Aufsicht waren. Nun mussten wir sie unter die Pritschen schieben, wo sie nachts von irgendjemandem gestohlen werden konnten. Ich packte alle Kleidungsstücke in einen einzigen Koffer und in einen anderen unsere Suppennäpfe und andere Besitztümer. Die ganze Baracke wurde gründlich geschrubbt und geputzt. Die Arbeit musste von denen verrichtet werden, die zu keiner Arbeitskolonne gehörten.
Wunderbarerweise wurde die Verpflegung besser. Zusammen mit den Brotrationen bekamen wir nun jede Woche ein kleines, viereckiges Stück Butter und eine Packung Limburger Käse. Der Käse roch schrecklich. Zu Hause hatten wir solchen Käse nie gegessen, aber die Tatsache, dass es ein holländischer Käse war, gab mir irgendwie das Gefühl, man hätte uns nicht ganz vergessen. Erstaunlich, wie mich dieses kleine Stück Käse beruhigte. Auch unsere mittägliche Suppe wurde besser. Sie war nun dicker und man konnte sogar vereinzelte Stücke von Fleisch und Kartoffeln darin finden. Wir wurden schlau. Wir warteten, um unsere Suppe abzuholen, bis in dem großen, etwa vierzig Liter fassenden Kessel nur noch ein Drittel enthalten war, da der Bodensatz der Suppe dicker war. Wie glücklich waren wir, wenn wir ein Stück Fleisch darin entdeckten.
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