Wir Kinder von Bergen-Belsen
Jetzt konnten wir unsere Mittagssuppe auch wieder zusammen mit Papa im Essraum es-sen, der, nachdem er sich bei der Barackenältesten entschuldigt hatte, unsere Baracke wieder betreten durfte.
Eines Tages bekam ich etwas, was ich für ein großes Stück Fleisch hielt. Aufgeregt kam ich mit meinem Napf zum Tisch. Papa hob das große Stück mit der Gabel heraus, um es zwischen uns aufzuteilen. Erschrocken sahen wir, dass es sich nicht um Heisch handelte, sondern um einen Putzlappen, der mit unserer Suppe gekocht worden war. Er hatte die gleiche braune Farbe angenommen wie die Suppe, deshalb bestand kein Zweifel, dass er stundenlang mitgekocht worden war. Wir überlegten, was wir tun konnten. Diese Suppe essen? Wie unhygienisch! Aber die Hälfte der Leute in der Baracke aß bereits. Das Schlimmste aber war, dass sich die Suppenmenge im Napf nach der Entfernung des Lappens beträchtlich verringert hatte. Ich beschloss, zu Frau Müller zurückzugehen. Ich legte den Lappen wieder in den Napf und zeigte ihr, was ich in der Suppe gefunden hatte. Sie nahm den Lappen aus dem Napf und füllte noch etwas Suppe ein.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte sie. »Davon stirbt man nicht.«
Ich gab Papa die Hälfte meiner Ration, wie ich es Mama versprochen hatte. Unsere Augen trafen sich über dem Tisch, und wir wussten beide, was die andere dachte. Um am Leben zu bleiben, würden wir diese Suppe essen. Der Hunger hatte uns so weit gebracht. Ich schob den Gedanken an den Putzlappen und die möglichen Konsequenzen zur Seite, nahm meinen Löffel und begann zu essen.
Es war Mitte Juni, als Scharführer Müller die erste Inspektion unserer Baracke durchführte. Die Inspektion fand statt, während wir auf dem Appellplatz standen. Als wir zurückkamen, sagte uns die Barackenälteste, dass er alles in Ordnung gefunden habe, worauf die Baracke nach wenigen Tagen wieder so aussah wie vorher und auch unsere Koffer wieder auf Mamas Bett lagen. Wir waren sehr erleichtert.
Max, der jüngere Bruder meines Vaters, der immer schon mein Lieblingsonkel gewesen war, und seine Frau Clara waren mit demselben Transport wie wir nach Bergen-Belsen gekommen. Zwar stand Claras Bett nur ein paar Meter von uns entfernt an der Wand zum Essraum, doch insgesamt sahen wir nicht sehr viel von ihnen. Onkel Max und Clara arbeiteten jeweils in der Küche, manchmal achtzehn Stunden hintereinander, und beide waren gut genährt, diese glücklichen Küchenarbeiter. Auch brauchte Tante Clara keine rohen Karotten zu essen, weil Onkel Max eine Menge Nahrungsmittel mitgehen ließ.
Die Tage, an denen Onkel Max frei hatte und Clara von der Arbeit zurückkam, nahmen sie ihr »Abendbrot« oben auf Claras Bett ein. Sie hängten ein Betttuch über die Balken, um einen Privatbereich zu haben. Von unserem Bett aus sahen wir, wie sie hinter dem Laken verschwanden, und wir wussten, dass sie nun aßen. Bestimmt waren sie nicht so hungrig wie wir, aber nie boten sie uns etwas von ihrem Essen an.
So war es in Bergen-Belsen. Die Menschen wurden geizig und dachten nur an ihr eigenes Überleben. Sie sanken tief, bis auf das Gesetz des Dschungels, oder noch tiefer, denn sogar ein Tier würde für das andere etwas zu essen übrig lassen, wenn es selbst gesättigt war. Es war offensichtlich, dass Onkel Max und Clara uns in den letzten Monaten aus dem Weg gegangen waren, aus Angst, wir könnten von ihnen etwas zu essen verlangen. Max und Jackie beschwerten sich bitter darüber, aber Mama verbot ihnen zu betteln. Sie waren eben noch jung und konnten überhaupt nicht verstehen, warum ihr Onkel sich so sehr verändert hatte.
Tausende und Abertausende von alten Schuhen wurden aus dem ganzen Deutschen Reich mit Lastwagen nach Belsen gebracht und neben unserem Bereich zu einem Berg aufgeschichtet. Mein Vater wurde einem neuen Arbeitskommando zugeteilt, dem Schuhkommando. Er ging morgens um sechs Uhr zur Arbeit,
kam zu einer Mittagspause zurück und arbeitete dann wieder bis sechs Uhr abends. Die Mittagspause bekamen die Männer vom Schuhkommando allerdings nur, weil die SS-Aufseher eine Pause wollten. Manchmal mussten sie auch bis acht Uhr abends arbeiten, je nach Lust und Laune ihrer Aufseher. Die Arbeit selbst war nicht schwer, aber sehr schmutzig. Die Häftlinge mussten mit einem scharfen Messer das Oberleder von den Sohlen trennen. In diesem Kommando von etwa zweihundert Männern befanden sich Professoren, einstmals mächtige Geschäftsleute, Rabbiner und Ingenieure. Um die monotone,
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