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Wir Kinder von Bergen-Belsen

Wir Kinder von Bergen-Belsen

Titel: Wir Kinder von Bergen-Belsen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hetty E. Verolme
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geisttötende Beschäftigung etwas aufzulockern, hielten sich die Akademiker beim Arbeiten gegenseitig Vorträge über verschiedene Themen. Auch die Rabbiner beschäftigten ihre Leidensgenossen mit ihrem Wissen. Oberrabbiner Dasberg saß normalerweise neben meinem Vater, die beiden freundeten sich an. Eine seltsame Kombination, denn mein Vater war Atheist.
    Die SS hasste die wenigen Rabbiner in unserem Lager — ihre Härte wirkten auf sie wie ein rotes Tuch. SS-Aufseher machten sich einen Spaß daraus, sich sadistische Bestrafungen für sie auszudenken, doch nichts konnte den Glauben dieser feingliedrigen Männer brechen.
    Juli 1944
    Das Wetter war angenehm und im Lager breitete sich so etwas wie Optimismus aus. Als wieder Transporte aus Westerbork ankamen, erfuhren wir einige Neuigkeiten aus der Außenwelt. Wie isoliert wir doch waren — erinnerten sich die Leute in den Niederlanden oder anderswo in der Welt noch an uns? Angehörige anderer Nationalitäten bekamen manchmal Päckchen vom Roten Kreuz, aber wir, die Niederländer, bekamen nie etwas. Ich schwor mir, das niederländische Rote Kreuz niemals zu unterstützen, sollte ich denn diese schreckliche Zeit überleben.
    Am 22. Juli hatte Max seinen zwölften Geburtstag. Tagelang hatte er bei Mama gebettelt, dass er an seinem Geburtstag zu Onkel Max gehen und ihn um etwas zu essen bitten dürfe. Schließlich gab sie nach.
    »Wie kann ich meinem Kind verweigern, etwas zusätzlich zu essen zu bekommen?«, sagte sie.
    Obwohl ich ebenso hungrig war wie Max und alle anderen auch, war ich nicht dafür. Der Gedanke, meinen früheren Lieblingsonkel um etwas zu bitten, was er offenbar nicht freiwillig zu geben bereit war, war mir verflogen. Noch war ich nicht bereit, mich so weit zu erniedrigen und um Brosamen zu betteln.
    Mama hatte erreicht, dass sie an Max' Geburtstag nicht arbeiten musste. In der Mittagspause ging Max hinüber zu Claras Bett, wo Onkel Max schlief. Zögernd rief er seinen Namen. Von weitem beobachteten wir, wie das Laken angehoben wurde und der Kopf unseres Onkels auftauchte. Nachdem sie einige Worte gewechselt hatten, wurde Max eingeladen, auf das Bett zu steigen und verschwand hinter dem Laken. Nach etwa zehn Minuten kam er wieder herunter, mit einer dicken Scheibe Weißbrot mit Butter und Zucker in der Hand. Sein Gesicht strahlte vor Glück. Er kam zu uns und hielt Mama das Brot hin, damit sie es unter uns aufteilen solle. Mama schnitt ein kleines Stück für Jackie ab, und da ich mich weigerte, etwas anzunehmen, sagte sie, Max solle den Rest alleine essen, schließlich sei es sein Geburtstag. Langsam und genüsslich verspeiste er die unerwartete Köstlichkeit.
    Vielleicht rührte sich das schlechte Gewissen in Onkel Max, denn am Tag darauf rief er um die Mittagszeit Max hinüber zu Claras Bett, und als er zurückkam, hatte er zwei weitere Scheiben Brot mit Butter und Zucker in der Hand, für »Hetty und Jackie«. Diese teilte ich unter uns fünf auf und bewahrte Mamas Anteil für abends, wenn sie von der Arbeit zurückkommen würde. Ich biss in meinen Anteil. Wie wunderbar es schmeckte! Ich war sicher, der beste Kuchen hätte nicht besser schmecken können.
    Doch weiter bekamen wir nichts mehr von Onkel Max.
    Iis war August 1944 und so heiß, dass man nicht schlafen konnte. Trotz der Hitze mussten wir stundenlang auf dem Appell-platz stehen, zu Tode erschöpft, an einem Tag sogar acht Stunden lang. Angeblich hatten wir unsere Baracken nicht ordentlich sauber gemacht und der Rote Müller war schlecht gelaunt. Vielleicht verloren sie ja den Krieg und ihr Traum vom tausendjährigen Reich wäre dahin. Manchmal kam Müller in die Baracke gestürmt, brüllte wie verrückt und zerrte die Decken von den Betten, die nicht vorschriftsmäßig gemacht worden waren. Er riss die Schränke auf, und wenn er einen Napf mit einem Rest Suppe fand, den sich der Besitzer für später aufgehoben hatte, um die quälenden Hungerattacken zu besänftigen, warf er ihn durch die Baracke und schrie mit sich überschlagender Stimme. Nach solchen Auftritten hielt er üblicherweise unsere Brotration für einen Tag oder zwei zurück. Wir hatten nun schon so lange gehungert, dass wir uns allmählich daran gewöhnten. Wir wurden gleichgültig und sprachen immer langsamer. Jeden Tag starben Menschen.
    Müller war ein Tyrann, der es genoss, ältere Leute anzubrüllen. Seine Opfer, mit zitternden Knien und angstvollen Gesichtern, wussten schon, dass sich sein Zorn gegen sie richten

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