Wir Kinder von Bergen-Belsen
wir den verlassenen Appellplatz in Richtung Baracken.
Am nächsten Tag erzählte uns Herr Weiss, dass die SS meinem Vater auf Befehl aus Berlin weitere vier Tage Bunker auferlegt hatte. Wir waren erleichtert, dass er nicht weggeschickt würde.
Immer mehr Menschen kamen nach Bergen-Belsen. Das Ungarnlager neben unserem war jetzt offenbar leer, die SS hatte die Insassen deportiert. Wir bemerkten, dass das Ungarnlager mit dem zusammengelegt wurde, was wir Neues Lager nannten. Später wurde es Häftlingslager genannt. Den Männern in diesem Lager wurden die Haare abgeschoren und sie trugen die grau-weißen Pyjamas. Einige von ihnen besaßen keine Schuhe.
Es wurde kälter und manchmal regnete es, was das Lager und seine Wege in einen einzigen großen Sumpf verwandelte. Die SS ließ uns stundenlang auf dem Appellplatz stehen, und von dort aus konnten wir beobachten, dass die Häftlinge im Nachbarlager vom selben Schicksal betroffen waren. Manchmal, lange, nachdem wir schon in unsere Baracken zurückgekehrt waren, standen diese armen Geschöpfe noch immer ohne Nahrung auf ihrem Appellplatz. Ihre Gesichter waren grau, mit hohlen Wangen, und ihre Augen lagen tief in den Höhlen. Manche von ihnen sahen aus wie in die Enge getriebene Tiere.
In den dreizehn langen Wochen seit unserer Ankunft in Bergen-Belsen hatten wir immer diese gehaltlose bräunlich-trübe Suppe bekommen. Langsam zeigte das seine Wirkung. Die Ersten, die vor Hunger starben, waren Männer, vor allem besonders große Männer.
Während eines Appells im frühen Februar hatte Scharführer Rau zwei Männer für einen Sonderauftrag ausgesucht. Auch wenn ich noch jung war, fiel mir doch auf, dass die beiden besonders gut aussahen: Sie waren groß, blond, mit blauen Augen und hatten eine sportliche Figur. Sie mussten das Lager innerhalb einer Minute verlassen, ohne etwas mitnehmen zu dürfen und wurden von zwei Aufsehern begleitet. Auffallend war, dass
sie nicht zum Lagerausgang gingen, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Wir hatten Angst um sie und fürchteten das Schlimmste. Ein paar Tage später sahen wir einen von ihnen auf der Straße zur Küche gehen, um seine Tagesration abzuholen. Ein paar Männer in der Nähe des Zauns riefen ihm etwas zu, sie wollten wissen, warum man sie isoliert hatte, doch er gab keine Antwort und schaute starr geradeaus. Es war offensichtlich, dass ihm jeder Kontakt mit uns verboten war. Wir konnten sie tagsüber manchmal sehen, weit weg, am anderen Ende des Lagers. Iis sah aus, als würden sie vor einer kleinen Hütte sitzen und Besen herstellen. Jeden Tag legten sie ganze Bündel von etwas, was wie Besen aus Weidenzweigen aussah, zum Abholen neben das Tor. Nach einer Woche sprach es sich herum, dass sie für das kleine Krematorium am anderen Ende des Lagers verantwortlich waren.
»Woher weiß man das, Papa?«, fragte ich, als er es mir erzählte. »Sie dürfen doch nicht mit uns sprechen.«
»Nun«, sagte mein Vater, »als einer von ihnen in die Küche kam, hat er jemandem in Zeichensprache mitgeteilt, was sie tun. Erst hatten sie nicht sehr viel Arbeit, aber jetzt ist das Krematorium Tag und Nacht in Betrieb, weil so viele Leute sterben.«
Die Ruhr war weit verbreitet im Lager, und nachts hielten uns diejenigen wach, die aufstehen und zur Toilette gehen mussten. Manchmal schafften sie es nicht rechtzeitig, und der Gestank drang einem in die Nase, sogar wenn man schlief. Wir hatten Glück, keiner von unserer Familie bekam die Ruhr. Lag es an unserer Konstitution oder an unserer Ernährungsweise, bevor wir ins Lager gekommen waren? Ich erinnerte mich an die wunderbar saftigen Bruststücke, die unser Großvater aus dem Schlachthaus brachte und die unsere Großmutter für uns kochte. Ich konnte vor mir sehen, wie er das Fleisch mit einem sehr scharfen, langen Messer in gleichmäßig dicke Scheiben schnitt.
Er servierte jedem von uns eine, bevor er sich selbst etwas nahm. Er begann seine Mahlzeit immer mit dem Fleisch, das er peinlich genau in kleine, viereckige Stücke schnitt und mit etwas würzigem Fett bedeckte, und genoss jeden Bissen. Er hatte mir beigebracht, das Fett zu essen, da es, wie er sagte, gut für meine Knochen und mein Gehirn sei. Niemals aß Großvater Fleisch mit etwas anderem zusammen. Wenn er mit dem Fleisch fertig war, gab Oma ihm einen frischen Teller und frisches Besteck für das Gemüse.
Opa war ein angesehenes Mitglied der niederländischen Fleischindustrie gewesen. Als zehnjähriger Junge hatte
Weitere Kostenlose Bücher