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Wir Kinder von Bergen-Belsen

Wir Kinder von Bergen-Belsen

Titel: Wir Kinder von Bergen-Belsen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hetty E. Verolme
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Appellplatz - vier lange Stunden, die unseren Geist brechen sollten.
    Ich ging hinüber zu Athena, einer Italienerin, die vor ein paar Wochen angekommen war, zusammen mit ihrer Mutter. Ich hatte versucht, mich mit ihr anzufreunden, denn sie war so alt wie ich, aber wir hatten große Sprachschwierigkeiten. Irgendwie hatte ich erfahren, dass sie drei Tage lang unter den Trümmern ihres zerbombten Hauses in Mailand begraben gewesen war. Athena war sehr schön, aber es fiel mir auch auf, wie zart sie war. Sie hatte ein madonnenhaftes Gesicht und erinnerte mich mit ihrem reinen Aussehen an eine Figur aus Meißner Porzellan. Ich spürte, dass sie in ihrer eigenen Welt lebte. Vielleicht war es dieses schreckliche Erlebnis der Bombardierung, das sie so unnahbar werden ließ. Ich legte ihr die Hand auf den Arm, doch sie blickte mich mit leeren Augen an.
    »Athena«, sagte ich, »bitte, sing für uns.« Ich wusste, dass sie eine wunderschöne Stimme hatte. Es kam keine Antwort. Sie stand da, ohne einen Muskel zu bewegen, und nahm nichts um sich herum wahr. Ich schüttelte ihren Arm.
    »Athena, bitte, sing für uns.« Stille, keine Reaktion. Ich begann langsam, die Melodie von »Santa Lucia« zu summen. Wie von einem Zauberstab berührt, wurde sie lebendig; erst langsam, doch dann gab sie sich mit aller Kraft dem Lied hin. Es stieg auf wie ein Gebet und lenkte uns von unserem Elend ab. Die Musik erfüllte unsere Herzen mit Hoffnung, und als ich mich zu den Ungarn umdrehte, konnte ich sehen, dass sie zuhörten und aufgehört hatten zu klagen. Viel später, nach viereinhalb Stunden, pfiff Albala. Der Appellplatz leerte sich und alle eilten, so schnell sie konnten, zurück zu ihren Baracken. Die Ungarn bildeten die Nachhut, und ich konnte beobachten, dass einige Kinder ältere Leute stützten, die sich kaum mehr auf den Beinen halten konnten. Ich schickte Max und Jackie zur Baracke, um unsere Ration zu holen, und blieb zurück, weil ich mit Papa sprechen wollte. Ich ging zum Bunker und konnte sehen, dass Papa herausspähte.
    »Hallo, Papa, wie geht es dir?«, fragte ich.
    »Gut«, sagte er.
    »Frierst du da drinnen nicht?«
    »Nein, ich habe die Decken und beim Appell habe ich ein bisschen geschlafen«, sagte er mit einer etwas künstlich fröhlichen Stimme. Ich glaubte ihm kein Wort. Er würde nicht schlafen, während wir draußen auf dem Appellplatz fast erfroren. In diesem Moment hörte ich etwas in der Nähe des Zauns. Ein kleines privates Tor öffnete sich und da stand Lübben. Ein Häftling war bei ihm, ein Gefangener aus dem Lager neben uns. Dieser Mann ist ein Kapo, dachte ich schockiert. Lübben befahl dem Mann, die Bunkertür zu öffnen. Mein Vater musste den Eimer herausbringen, der ihm offenbar als Toilette gedient hatte. Ich sah zu, wie Lübben ihm befahl, stramm zu stehen, mit dem
    Rücken zur Wand. Ich stand wie erstarrt. Oh Gott, dachte ich, was wird er ihm antun? Ich hatte Angst.
    »Verbrecher, warum bist du im Bunker?«, schrie Lübben meinen Vater an.
    »Ich habe mich Herrn Albala gegenüber schlecht benommen und ich entschuldige mich dafür«, sagte mein Vater.
    »Du verdienst, erschossen zu werden!«, sagte Lübben.
    Ich musste eine unwillkürliche Bewegung gemacht haben, denn nun bemerkte Lübben, dass ich in der Nähe stand.
    »Schließt diesen Kriminellen wieder ein!«, sagte er zu dem Kapo, der meinen Vater grob in den Bunker zurückstieß.
    »Nun«, sagte Lübben und wandte sich an mich, »du willst doch nicht auch in den Bunker gehen?«
    »Nein, Herr Scharführer«, antwortete ich zögernd und hatte Furcht vor dem, was als Nächstes passieren würde.
    Lübben lächelte mich an.
    »Das möchte ich auch nicht«, sagte er.
    Mit diesen unerwarteten Worten drehte er sich um und ging durch das private Tor davon. Puh! Ich stieß die Luft aus. Meine Heine zitterten noch immer vor Schreck. Ich sah Herrn Weiss auf mich zukommen. Er war Zeuge dieser Szene geworden.
    »Du hast viel Glück gehabt«, sagte er. »Du weißt doch, dass du nicht in die Nähe des Bunkers kommen darfst. Ich sage dir, Hetty, dein Vater wird in ein paar Tagen freikommen, und ich möchte nicht, dass du dem Bunker noch einmal zu nahe kommst. Du riskierst nicht nur deine Sicherheit, sondern auch die deines Vaters.«
    Daran hatte ich nicht gedacht, doch jetzt erschrak ich.
    »Ich verspreche ihnen, dass ich fernbleibe, Herr Weiss«, sagte ich .
    »Braves Mädchen!«, sagte Herr Weiss und legte seinen Arm um meine Schulter. Zusammen überquerten

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