Wir Kinder von Bergen-Belsen
würde. Er schlug sie mit den Fäusten und quälte sie, indem er sie stundenlang am Tor stehen ließ, die Mützen in der Hand, egal, ob es regnete, stürmte oder die Sonne herunterbrannte. Und er konfiszierte ihre Essensrationen für zwei oder manchmal sogar vier Tage. Der Mann war ein sadistisches Ungeheuer.
Scharführer Herzog war verantwortlich für die Toiletten, falls man diese überhaupt so nennen konnte. Für gewöhnlich wurde er auf seinen Gängen durch das Lager von einem etwa zwölfjährigen Jungen begleitet, der eine lange Stange und einen Eimer trug. Herzog befahl dem Jungen, den Deckel der zu kontrollierenden Toilette anzuheben, danach stocherte er mit dem Stock in der Öffnung, um dann, wenn er zufrieden war, zum nächsten Kontrollpunkt zu gehen. Wir nannten ihn den »Scheißekönig«.
War ein Abfluss verstopft, konnten wir ihn schreien hören. Dann wurde sein Gesicht rot, und die Adern in seinem Nacken schwollen an, als würden sie gleich platzen. Wir hofften, es würde endlich passieren, aber das tat es leider nicht. Ansonsten war er freundlich, und man konnte manchmal auch sehen, dass er lächelte oder sich mit Kindern und alten Leuten unterhielt. Für mein Gefühl passte er nicht zu der SS-Verwaltung.
Unser Essen kam nicht mehr pünktlich. Die Leute in der Küche arbeiteten Tag und Nacht, um dem wachsenden Zustrom ins Lager standzuhalten. Auch die Träger kamen nicht mit und manchmal erreichten uns die Kessel erst nach acht Uhr abends. Wir warteten sehnsüchtig auf dieses bisschen Suppe, hielt die warme, minderwertige Brühe uns doch für eine Weile am Leben.
Es war sehr heiß. Unter freiem Himmel war es erträglicher als in der Baracke, deshalb waren wir meist draußen. Wenn man einen Stuhl auftreiben konnte, war es doch angenehmer, ansonsten saß man einfach auf dem staubigen, ausgetrockneten Boden. Im Lager war nirgendwo ein grünes Blatt zu sehen, es wuchs auch kein Gras. Alles war mit einem trostlosen braungrauen Staub bedeckt.
Vater erfuhr durch den Lagertelegraphen, dass Onkel Max im Bunker war, nicht in dem kleinen Bunker, in dem er selbst mal gesessen hatte, sondern unten, wo der Lagerbereich der SS war.
»Was ist passiert?«, fragte ich.
»Genau weiß ich es nicht«, antwortete mein Vater, »aber ich habe gehört, dass er ein Pfund Butter gestohlen hat und dabei erwischt worden ist.«
In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen, der Gedanke an das, was meinem Onkel wohl passieren würde, ließ mich nicht los. Ich wusste, wie grausam und bösartig die SS war. Die folgenden zwei Tage waren kaum auszuhalten, ohne jede Nachricht, doch am dritten Tag sah ich am späten Nachmittag, wie Onkel Max unsere Baracke betrat. Er war blass und sah aus, als hätte er abgenommen. Papa, der an diesem Tag die Arbeit geschwänzt hatte, ruhte sich auf Mamas Bett aus. Als ich ihm sagte, dass Onkel Max zurückgekommen war, ging er sofort zu ihm hinüber, um zu erfahren, was passiert war. Zusammen kamen sie zu unseren Betten zurück. Aus der Nähe sah Onkel Max schrecklich aus. Unsere Blicke trafen sich, und trotz meines Grolls auf ihn, weil er sich so geizig verhalten hatte, warf ich die Arme um seinen Hals und küsste ihn. Ich war wirklich sehr glücklich, ihn wiederzusehen. Und für einen Augenblick kam der alte Onkel Max wieder zum Vorschein. Er lächelte mich an, als er sagte, ich sei gewachsen. Dann erzählte er, tatsächlich erwischt worden zu sein, als er versuchte, ein Kilo geklaute Butter in unser Lager zu schmuggeln. Zwei Tage hatte man ihn in Einzelhaft gehalten, und alle paar Stunden war jemand von der SS gekommen, um ihn zu schlagen. Es war nur seinem guten körperlichen Zustand zu verdanken, dass er das durchgehalten hatte, und er habe Glück gehabt, nicht nach Auschwitz geschickt worden zu sein. Jetzt sei er völlig fix und fertig, denn er habe diese zwei Tage auch nichts zu essen bekommen.
»Dann solltest du dich jetzt lieber hinlegen und ausruhen, bevor Clara von der Arbeit kommt«, sagte Papa. »Du hast es nötig.«
Onkel Max stimmte zu. Er tätschelte mir den Kopf und ging zu Claras Bett hinüber. Mühsam kletterte er hinauf und wir sahen ihn hinter dem Betttuch verschwinden. Es war gut, dass die Familienbande wieder geknüpft waren, und als ich an diesem Abend schlafen ging, dankte ich Gott dafür, dass Onkel Max verschont worden und wieder zur Familie zurückgekehrt war. Am nächsten Tag wurde er dann dem Schuhkommando zugeteilt, da er nicht mehr in die Küche zurückdurfte. Das gab
Weitere Kostenlose Bücher