Wir Kinder von Bergen-Belsen
er mit seinem Vater Rindermärkte besucht und das Geschäft von Grund auf gelernt, Großhandel mit Schafen, Rindern, Ziegen und so weiter. Er war Fachmann, handelte mit Schlachthöfen und Nahrungsmittelfabriken. Als ich auf meinem Bett in Bergen-Belsen saß, sah ich das Wohnzimmer meiner Eltern vor mir und erinnerte mich an unsere glücklichen Gesichter in einer Zeit, die schon so lang zurückzuliegen schien. Ich sah uns bei festlichen Mahlzeiten, ich sah das glückliche Lächeln meiner Oma, und mein Herz weinte darüber, dass dies für immer vorbei war.
Mein Magen erinnerte mich daran, dass ich sehr hungrig war. Ich drückte beide Hände auf den Bauch, um den Schmerz zu dämpfen. Nach einer Weile ließ er nach.
Später beschloss ich, einen anderen Pullover anzuziehen. Ich trug nun schon so lange denselben Pullover und fühlte mich immer unbehaglicher. Beim Ausziehen drehte ich ihn um und entdeckte etwas Kriechendes - Läuse. Der Achselbereich war voller Nissen. Ich fing an, sie zwischen meinen Daumennägeln zu zerquetschen, aber es war sinnlos. Ich suchte im Koffer nach einem anderen Pullover und fand einen. Er war nicht warm, aber ich zog ihn trotzdem an. Den anstößigen Pullover stopfte ich in den Koffer, in der Hoffnung, dass die Läuse sterben würden. Ich schämte mich so sehr, dass ich niemandem ein Wort davon sagte. Unsere hygienischen Standards waren unvorstellbar tief gesunken: keine Seife, kein Wasser. Ich trug seit Monaten dieselbe Kleidung. Meine Unterwäsche war auch nicht besonders sauber. Die einzige Stelle an meinem Körper, die ich vor Schmutz schützte, war die Wunde an meinem Fuß, die von dem Unfall mit dem heißen Wasser in Westerbork herrührte. Wie viele Monate war das her? Vier Monate, und noch immer war die Wunde offen und so tief, dass ich den Knochen sehen konnte. Alle paar Tage wechselte ich den Verband, eine Papierbinde, die ich vom Lagerarzt bekommen hatte. Ich hatte weder Medikamente noch Desinfektionsmittel, deshalb bedeckte ich die Wunde mit einem sauberen Stück der Binde und benutzte den Rest wieder und wieder. Eines Tages hörte sie auf zu nässen, und ich konnte sehen, wie langsam, sehr langsam, neues Fleisch auf dem Kno-chen wuchs.
31. Mai 1944
Hin Transport mit ungefähr zweihundert Menschen war von Westerbork gekommen. Die Gruppe bestand aus »Diamantenluden«, das heißt, sie waren Diamantenschleifer und Diamantenhändler. Für sie waren besondere Baracken in der Nähe des Lagerkrankenhauses errichtet worden. Die Mitglieder der Diamantengruppe bekamen einige Privilegien. Sie wurden keinen Arbeitskommandos zugeteilt und erhielten doppelte Essensrationen.
Das Wetter war wieder besser geworden, und tagsüber konnte man sehen, wie sich diese Leute neben der Wäscheleine sonnten oder, gut angezogen, durch das Lager spazierten. Ein paar Wochen nach ihrer Ankunft konnten wir beobachten, dass zwei spezielle Baracken direkt hinter dem Zaun unseres Lagers unter Bäumen errichtet wurden. Bald erfuhren wir durch den »Lagertelegraphen«, dass in diesen Baracken eine Diamantenschleiferei errichtet werden solle. Mein Vater, der mit dieser Nachricht von der Arbeit zurückkam, sagte, er würde zu Albalas Büro gehen und versuchen, unsere Namen auf die Liste der Diamantengruppe zu bekommen. Mein Vater kannte sich aus mit Diamanten, sein Vater und sein Bruder waren ausgezeichnete Diamantenschleifer und Diamantenschneider. Doch bevor er zu Albalas Büro ging, diskutierte er die Sache noch mit Onkel Max. Beide waren der Meinung, dass sich ein Versuch lohne, immerhin bestand dann die Aussicht, nicht mehr um sechs Uhr morgens zur Arbeit gehen zu müssen.
Ein paar Tage später berichtete mein Vater, unsere Namen seien jetzt auf der Liste der Diamantengruppe. Aber unsere Hoffnungen erfüllten sich nicht. Mein Vater und Onkel Max mussten weiterhin jeden Morgen zur Arbeit und bekamen auch keine doppelte Verpflegung.
Das Gespräch, das Mama mit Lübben hatte, als mein Vater im Bunker gewesen war, führte tatsächlich zu einem positiven Ergebnis. Ab Ende Mai bekamen die Frauen, die in der Küche arbeiteten, einen halben Tag in der Woche frei, um sich um ihre Familien zu kümmern. Wie glücklich waren wir, unsere Mutter einen halben Tag um uns zu haben. Wir, Mama und ich, erledigten dann verschiedene Aufgaben, zum Beispiel wuschen wir unsere einzigen Betttücher und andere Dinge. Monatelang hatte sie sieben Tage in der Woche gearbeitet und ich hatte die Wäsche irgendwie erledigt, doch nun
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