Wir Kinder von Bergen-Belsen
dem diensthabenden Scharführer des Schuhkommandos die Möglichkeit, die »kriminellen Brüder«, wie er meinen Vater und meinen Onkel nannte, besonders anzuschreien. Er teilte ihnen die schwersten und schmutzigsten Arbeiten zu.
August 1944
Die Hitze war drückend, die Luft in der Baracke stickig. Keiner konnte nachts schlafen. Immer wieder wurde das Wasser gesperrt, und wenn die Hähne dann wieder liefen, gab es ein unglaubliches Gedränge, denn alle wollten Flaschen oder Eimer füllen. Einigen Glücklichen gelang es, sich schnell zu waschen.
Neben dem Männerblock gab es einen Wasserhahn auf dem Appellplatz. Sinti- und Roma-Frauen, die ein paar Tage zuvor aus Italien gekommen waren und nun, nachdem sie ohne Essen und Trinken den ganzen Tag Stubben (Baumwurzeln) gerodet hatten, von der Arbeit zurückkehrten, kämpften regelrecht miteinander, um an den Wasserhahn zu gelangen. Hier lernte ich auch, was »aqua finito« bedeutete, denn sie riefen es sich immer wieder zu, wenn das Wasser aufhörte zu fließen. Das absichtliche Rationieren von Wasser und das daraus entstehende Chaos amüsierte die SS-Männer außerordentlich. Lachend beobachteten sie von weitem das Elend der Menschen.
Die Hitze hatte auch ihre Auswirkungen auf die Kanalisation, die nicht für so viele Menschen gedacht war. Herzog tobte wie ein Berserker und verteilte nach allen Seiten Strafen. Ganze Baracken verloren ihre Rationen für zwei oder mehr Tage.
Während dieser Hitzewelle rief mich meine Mutter, ich sollte mit ihr zum Waschhaus gehen. Ihrem Gesicht war anzusehen, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Als wir eintraten, sah ich meinen Vater in seinem einzigen Paar Hosen, das er besaß, und von den Schuhen bis zu den Ärmeln mit Exkrementen bedeckt. Auch sein Gesicht war nicht sauber. Er stank Kilometer gegen den Wind.
»Was ist passiert?«, rief ich erschrocken.
Papa sagte, der Rote Müller sei zum Schuhzelt gekommen und habe verlangt, dass vier Männer die Latrinen sauber machen sollten. Oberrabbiner Dasberg wurde als Erster ausgewählt, eine absichtliche Demütigung für ihn. Die beiden nächsten waren die »kriminellen Brüder« und dann, als Vierter, ein Mann namens Mijer, den wir hinter seinem Rücken »Hap-Mijer« nannten. Er war ein netter, geistig etwas zurückgebliebener Mann, der immer nach Luft schnappte, bevor er sprach. Er war dünn wie ein Stock, besaß aber einen enormen Lebenswillen. Die vier Männer wurden aufgefordert, die riesigen Latrinen mit Eimern auszuschöpfen.
»Hat der Rabbiner in der Grube gestanden?«, fragte ich.
»Nein«, sagte mein Vater. »Das ließen wir nicht zu. Wir haben ihn die Eimer auf einem Karren wegfahren lassen. Natürlich ist auch er schmutzig geworden, aber wir haben ihn nicht in der Grube stehen lassen.«
»Gut, zieh jetzt das dreckige Zeug aus«, sagte Mama zu Papa.
Zum Glück war außer uns dreien niemand im Waschraum. Ich drehte meinem Vater diskret den Rücken zu, während er sich auszog. Inzwischen füllte ich das Becken mit Wasser. Zum Glück war es nicht gesperrt. Mama gab mir Papas Hosen. Pfui Teufel! Was für ein Gestank! Was für ein Dreck! Schnell stopfte ich die Hosen in das Wasser, das sich sofort in eine Miniaturlatrine verwandelte. Ich ließ das schmutzige Wasser ablaufen und wiederholte den Vorgang immer wieder. Papas Unterwäsche und sein Hemd bekamen die gleiche Behandlung. Es nützte aber nichts, ich konnte seine Sachen nicht sauber bekommen. Wie sollte ich auch? Es gab weder Seife noch Waschpulver. Ich bat Mama um eine Bürste, aber so sehr ich mich auch bemühte, die ursprüngliche Farbe von Papas Hose kam nicht zum Vorschein. Während er sich wusch, versuchte Mama, seine Schuhe mit einer Bürste zu reinigen.
Mitten in diesem Elend musste ich lachen, als ich meinen Vater in der sauberen Hose sah, die Mama von irgendjemandem für ihn geliehen hatte. Sie war ihm viel zu kurz und er sah komisch aus. Aber alles war besser als die Hose, die im Waschtrog weichte.
Mutter und ich diskutierten verschiedene Methoden, wie wir die Hose sauber kriegen könnten. Sie wegzuwerfen war ausgeschlossen. Kleidung war in Bergen-Belsen nicht zu bekommen, deshalb mussten wir anziehen, was wir hatten, oder nackt gehen. Wir beschlossen, die Hose und die Unterwäsche über Nacht eingeweicht zu lassen, um dann einen zweiten Versuch zu unternehmen, sie sauber zu bekommen. Aus dem Waschhaus stehlen würde sie sowieso keiner.
Am nächsten Tag, nach dem Appell, ging ich zum Waschhaus
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