Wir Kinder von Bergen-Belsen
zurück und spülte eine ganze Stunde lang die Kleidungsstücke wieder und wieder. Während ich noch damit beschäftigt war, kam ein Mann herein, der seine Frau suchte. Er fragte mich, was ich da tue, und ich erzählte es ihm. Das Hemd und die Unterwäsche waren, obwohl sie noch Flecken hatten, einigermaßen sauber geworden, aber sie stanken immer noch. Der Mann schaute mir eine Weile zu, dann sagte er: »Du bist ein tapferes Mädchen«, und ging. Ich beschloss, die Hose einen weiteren Tag einzuweichen, brachte aber das Hemd und die Unterwäsche erst mal zur Wäscheleine.
Zwei weitere Tage lang schrubbte und spülte ich die Hose immer wieder, und als ich sie endlich zum Trocknen aufhängte, konnte man die Latrine immer noch riechen. Ich hoffte, dass die Sonne und die Luft dieses Problem lösen würden. Obwohl die Hose ziemlich armselig aussah, war Papa an diesem Abend sehr dankbar, als ich sie ihm zurückbrachte und er die geliehene zurückgeben konnte. Inständig sagte ich mir, dass er nie wieder zum Reinigen der Latrine eingeteilt werden sollte. Das würde ich kein zweites Mal aushalten.
4. Kapitel
Es war September 1944 und die heißen Tage waren Gott sei Dank vorüber. Jeden Tag kamen neue Transporte im Lager an. Der Essraum verschwand und Pritschen wurden dort aufgebaut, Eine kleine Ecke blieb für Frau Müller reserviert und ein langer Tisch diente als Theke, wo wir unsere Tagesrationen bekamen.
In die Baracke gegenüber zogen Frauen aus Frankreich ein. Ich hatte keine Ahnung, woher sie kamen. Sie waren nicht diese typischen kleinen Brünetten aus Paris, sondern große, starke Frauen. Ich fand, sie sahen aus wie Amazonen, obwohl ich nie im Leben eine Amazone gesehen hatte. Sie blieben unter sich und hatten keine Kontakte zu uns. Abends, nach der Arbeit, saßen sie in Grüppchen vor der Baracke zusammen und sangen die Marseillaise oder sentimentale französische Lieder. Sie waren alles andere als schamhaft, kauerten sich über eine Schüssel Wasser und wuschen sich zwischen den Beinen, vor der Baracke, wo alle zuschauen konnten, auch Männer und Kinder. Normalerweise waren sie zu zweit, während die eine sich wusch, hielt die andere ihr das Handtuch. War die Frau fertig, wiederholte die andere das Ritual.
Während der ersten Wochen im September kam ein kleiner Transport mit Frauen aus Westerbork, unter denen sich auch Sonja befand. Das Wiedersehen mit ihr war ein komischer Höhepunkt in unserem traurigen Leben, denn zugleich bekümmerte es uns natürlich, hatten wie sie doch in Amsterdam in Sicherheit gewähnt, nachdem wir sie auf unserem Weg nach Westerbork auf dem Amsterdamer Bahnhof zuletzt gesehen hatten. Die SS-Männer ließen sie dort bis zehn Uhr abends mit dem Gesicht zur Wand stehen, um ihr dann eine Strafpredigt zu halten. Man hatte sie auch ins Gesicht geschlagen, aber dann immerhin laufen lassen. Weiter berichtete sie, dass sie den Bruder meiner Mutter und seine Familie in Westerbork getroffen habe. Sie seien aber vor ein paar Wochen mit dem letzten Transport nach Auschwitz geschickt worden. Meine Mutter war verzweifelt. Sie stellte Sonja alle möglichen Fragen. Wie war das passiert? Sie hatten sich doch drei Jahre lang auf einem Bauernhof in Drenthe versteckt und waren dort in Sicherheit gewesen. Wieso waren sie geschnappt worden? Diese Fragen konnte Sonja nicht beantworten. Die Nachricht war schwer zu ertragen. Nachdem Mama lange geweint hatte, sagte sie, vielleicht würde doch noch alles gut. Hoffnung schimmerte in ihren Augen. Wir waren nicht so sicher, sagten ihr das aber nicht.
Als wir mit Sonja vor der Baracke um einen Tisch saßen und uns gerade weiter über alte Freunde und Verwandte unterhielten, fiel plötzlich ein Sonnenstrahl auf den Ring an Sonjas Hand.
»Was für ein hübscher Ring, Sonja, zeig ihn doch mal«, sagte meine Mutter. Als Sonja die Hand ausstreckte, erkannte Mama ihn sofort. »Das ist ja mein Ring!«
»Stimmt«, sagte Sonja. »Ich habe ihn im Schrank gefunden, zwischen den Handtüchern, nachdem ihr von der SS abgeholt worden seid. Jetzt kannst du ihn natürlich zurückhaben, wenn du willst, bitte.« Sie zog den Ring vom Finger und gab ihn meiner Mutter.
Deren Gesicht leuchtete auf. Der Ring mit seinen fünf kleinen Diamanten in einer Reihe rief glücklichere Zeiten in ihr wach, als unser Leben noch normal verlaufen war. Es war eine kostbare Erinnerung an einen früheren Hochzeitstag, an dem die ganze Familie teilgenommen hatte. Sie zog den Ring über den Finger,
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