Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir Kinder von Bergen-Belsen

Wir Kinder von Bergen-Belsen

Titel: Wir Kinder von Bergen-Belsen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hetty E. Verolme
Vom Netzwerk:
aber er war ihr zu groß, denn sie hatte, wie jeder an-dere im Lager, sehr abgenommen. Sie nahm ihn wieder ab, weil sie Angst hatte, sie könne ihn verlieren, und versteckte ihn in einer Tasche ihrer langen Hose.
    An diesem Abend, oben auf unserem Bett, ließ mich Mama für einen Moment den Ring halten. Ich bewunderte das Licht, das von den kleinen Diamanten reflektiert wurde, dann gab ich Ihn Mama zurück, und sie wickelte ihn in ein Taschentuch und steckte das Päckchen in ihren Büstenhalter. Es ging ganz leicht, denn sie hatte so viel Gewicht verloren, dass darin viel Platz war. Um das optische Gleichgewicht herzustellen, nahm sie dann noch ein Taschentuch und stopfte es in die andere Hälfte. Wenn man im Lager etwas sicher aufheben wollte, tat man das am besten am eigenen Körper.
    Das schöne Wetter hielt an, und an den Tagen, an denen Mama nicht arbeiten musste, saßen wir an dem Tisch vor der Bara-cke. Wie üblich hatte ich schon morgens mit ihr zusammen die Wäsche gewaschen, wenn es Wasser gegeben hatte. Von unserem Platz aus konnten wir die Wäscheleine im Auge behalten.
    Ältere Frauen und Männer saßen herum und unterhielten sich. Sie sprachen über die letzten Todesfälle unter ihren Freunden und Bekannten, über den Krieg, über Krankheiten und immer wieder übers Essen. Sie erwähnten große Kuchen mit Sahne, saftige Steaks und andere Delikatessen, die ihre Phantasie beschäftigten. Und wir konnten die beschriebenen Köstlichkeilen vor uns sehen und sogar riechen.
    Manchmal saß Shellie bei uns. Sie war nicht alt, etwa dreißig, aber sie hatte etwas Seltsames an sich. Sie behauptete, Hellseherin zu sein. Sie konnte Karten lesen und war, wie meine Mutter mir später erzählte, eine Zeugin Jehovas. Sie weigerte sich ent-schieden zu arbeiten und behauptete, Gott habe ihr verboten, für die Feinde zu arbeiten. Eines Tages fragte sie meine Mutter, ob sie ihr die Karten lesen solle. Meine Mutter stimmte zu.
    »Aber wenn es etwas Schlimmes ist, will ich es nicht wissen«, sagte sie.
    Shellie legte die Karten auf dem Tisch aus und dachte lange nach. Dann hob sie den Kopf und schaute Mama an. Ihre Augen leuchteten, als sie sagte:
    »Ich will dir nicht alles sagen, was ich sehe, aber eines sollst du wissen: Ihr werdet alle fünf sicher durch den Krieg kommen und nach Hause zurückkehren.« Sie schwieg, dann fuhr sie fort: »Ich sehe, dass ihr nicht lange zu Hause bleiben werdet, sondern ihr werdet über ein großes Wasser in ein fernes Land ziehen.«
    Obwohl es gut war, zu hören, dass wir überleben würden, nahmen wir Shellies Prophezeiungen nicht ernst.
    Shellie war gekränkt.
    »Ich sage die Wahrheit. Glaub mir. Ihr werdet alle nach Hause kommen«, sagte sie.
    Eines Morgens schaute ich, während ich meine langen schwarzen Haare kämmte, in den Spiegel, den ich in Westerbork bekommen hatte. Seit meine Mutter sie in der Nacht, als wir abgeholt worden waren, abgeschnitten hatte, hatten sie wieder eine wunderbare Länge erreicht. Ich lächelte mir im Spiegel zu und entdeckte, dass in einem meiner Schneidezähne ein kleines Loch war. Also beschloss ich, den Zahnarzt aufzusuchen. Neben Albalas Büro gab es ein kleine Baracke, wo man sich zu bestimmten Zeiten von einem Zahnarzt behandeln lassen konnte. Es war so etwas wie ein Behandlungszentrum, ursprünglich für die SS eingerichtet, aber manchmal durften die Zahnärzte eben auch uns behandeln. Nach dem Appell ging ich hin, doch die Krankenschwester sagte, ich solle um drei Uhr nachmittags wiederkommen, der Zahnarzt sei noch nicht vom Appell zurück. Nachmittags waren zwei Leute vor mir, also musste ich warten. Als ich an der Reihe war, rief mich die Krankenschwester hinein, ich betrat den Raum und sah einen sanften, vielleicht sechzigjährigen Mann vor mir. Er war ungefähr einen Meter sechzig groß, und seine Augen erinnerten mich an die des Rabbiners, der mich in Westerbork gesegnet hatte. Der Raum war in der
    Tat wie eine erstklassige Zahnarztpraxis eingerichtet und alles glänzte vor Sauberkeit. Der Zahnarzt trug einen blendend weißen Kittel, und ich hatte plötzlich das Gefühl, wieder zu Hause zu sein. Er fragte mich, was für ein Problem ich hätte.
    »Ich habe ein Loch im Schneidezahn«, sagte ich.
    »Dann schauen wir mal nach, junge Dame. Mach den Mund auff.«
    Ich machte den Mund auf und der Zahnarzt kontrollierte schnell meine Zähne.
    »Nun«, sagte er, »du hast auch große Löcher in zwei Backenzähnen. Die füllen wir gleich.«
    Er gab der

Weitere Kostenlose Bücher