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Wir Kinder von Bergen-Belsen

Wir Kinder von Bergen-Belsen

Titel: Wir Kinder von Bergen-Belsen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hetty E. Verolme
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Krankenschwester ein paar Anweisungen und fing an zu bohren, ohne dass ich eine Betäubung bekommen hätte. Vor Schmerz umklammerte ich die Sitzlehnen, während er bohrte und mir dabei erklärte, er fülle die Löcher in meinen Zähnen mit weißem Zement.
    »So können wir sie erhalten, bis wir wieder zu Hause sind«, sagte er.
    Dann, als er mit den Backenzähnen fertig war, begann er mit dem Schneidezahn, an dem er eine vorläufige Füllung anbrachte. Das alles dauerte über zwei Stunden, und ich war froh, als es endlich vorüber war. In einer Woche solle ich wiederkommen, sagte er.
    Draußen wurde es schon langsam dunkel. Das Lager war verlassen. Schnell lief ich zu unserer Baracke. Als ich ankam, saß die Familie oben auf dem Bett. Wir hatten wirklich Glück, obere Pritschen zu haben. Zumindest konnten wir irgendwo sitzen. Der Platz in den unteren erlaubte den Leuten nicht, sich aufrecht hinzusetzen, was zu Neid und bösen Worten führte, wenn jemand hinauf- und hinunterkletterte.
    »Wo warst du?«, fragte Mama.
    »Ich war beim Zahnarzt«, sagte ich. Stolz machte ich den Mund weit auf, um ihr zu zeigen, was er an meinen Zähnen gemacht hatte.
    »Es sieht gut aus«, sagte sie. »Hier, da sind ein paar Karotten und Max hat eine Tasse Tee für dich. Er ist leider schon kalt.«
    Schnell trank ich den kalten Tee. Die Karotten gab ich Max und Jackie, denn ich durfte erst wieder essen, wenn die Füllung hart geworden war. Max und Jackie waren über diesen unerwarteten Glücksfall sehr froh und die Karotten verschwanden blitzschnell.
    Eine Woche später ging ich wieder zu dem Zahnarzt, um fünf Uhr, wie ich bestellt worden war.
    »Da bist du ja«, sagte der Zahnarzt, als ich den Behandlungsraum betrat. »Ich habe nur noch auf dich gewartet. Ich fühle mich nicht wohl, aber du kommst noch dran.«
    Ich saß auf dem Stuhl, während er rasch die vorläufige Füllung meines Schneidezahns entfernte. Dann wies er die Krankenschwester an, eine Porzellanfüllung vorzubereiten. Sie reagierte nicht.
    »Warum tun Sie nicht, was ich Ihnen gesagt habe?«, fragte  er.
    »Die Porzellanfüllung ist doch nur für die SS«, antwortete sie. »Sie werden es bemerken, wenn Sie etwas davon benutzen.«
    »Tun Sie, was ich Ihnen sage, und beeilen Sie sich«, sagte der Zahnarzt sanft, aber entschieden.
    Widerwillig bereitete sie die Füllung vor und der Zahnarzt beendete die Behandlung.
    »Hier, Hetty«, sagte er, »schau dich an.«
    Er gab mir den Spiegel. Er hatte es wunderbar gemacht. Meine Zähne schimmerten im Spiegel wie Perlen.
    »Und jetzt achte auf deine Zähne, so gut du kannst«, sagte der Zahnarzt. »Du bist ein sehr hübsches Mädchen. Ich konnte dir doch keinen Zement in den Schneidezahn füllen. Und denk dran, dass du vier Stunden lang weder essen noch trinken darfst.« Er stöhnte auf. »Du lieber Himmel, bin ich müde.«
    Ich war betroffen, als ich bemerkte, wie schlecht er aussah.
    »Geht es Ihnen gut?«, fragte ich.
    »Ja. Aber ich werde mich jetzt hinlegen, wenn du weg bist.«

Ich verabschiedete mich von diesem wunderbaren, mutigen Mann und bedankte mich noch einmal, bevor ich die Praxis verließ.
    Am nächsten Tag ging die Nachricht durch das Lager, dass der Zahnarzt im Schlaf gestorben sei. Ich war sehr betroffen von seinem Tod. Er hatte es ernst gemeint, als er gesagt hatte: »Ich habe nur noch auf dich gewartet«, und nun verstand ich, warum er sich nicht vor irgendwelchen Konsequenzen gefürchtet hatte, als er von der Porzellanfüllung nahm, die der SS vorbehalten war. Er hatte geahnt, dass ich seine letzte Patientin sein würde.
    Jeden Tag um vier Uhr wurden die Leichen für das kleine Krematorium am Ende des Lagers eingesammelt. Als der Wagen mit dem toten Zahnarzt durch das Tor fuhr, war ich dort, um ihm die letzte Ehre zu erweisen, und weil ich dem Wagen nicht folgen durfte, ging ich innerhalb des Zauns entlang, parallel zu dem Weg, der zum Krematorium führte.
    Als ich nicht mehr weitergehen konnte, sah ich dem Wagen nach, wie er in der Ferne verschwand. Ich war so traurig, als hätte ich einen guten Freund verloren. Ich erinnerte mich an seine Augen und seine sanften Hände, an sein ermutigendes Lächeln, wenn er mir wehtun musste. Ich weinte. Er hatte es nicht verdient, jetzt schon zu sterben, und noch weniger, ein so unehrenhaftes Ende zu finden. Meine Augen brannten, vor Tränen, als ich langsam zur Baracke zurückging.
    Zur Diamantengruppe gehörten zwei prominente Familien, die Asschers und die Soeps. In

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