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Wir Kinder von Bergen-Belsen

Wir Kinder von Bergen-Belsen

Titel: Wir Kinder von Bergen-Belsen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hetty E. Verolme
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wieder in den Koffer packte, hörte ich, wie Eva von einem etwas weiter entfernten Bett meinen Namen rief.
    »Hetty, kann ich rüberkommen?«
    »Natürlich«, sagte ich. Ein paar Sekunden später kletterte Eva auf unser Bett. Sie war ein paar Jahre älter als ich. Wir hatten manchmal kurz miteinander gesprochen, in der Baracke oder auf dem Appellplatz.
    »Ich war mit meiner Mutter am Zaun, und diese Frauen haben gesagt, dass sie aus Auschwitz kommen und dass man dort Leute verbrennt«, sagte Eva.
    »Was meinst du damit, man verbrennt Leute?«, fragte ich.
    »Na ja«, sagte Eva, »sie stopfen sie in einen Ofen und verbrennen sie.«
    »Du bist verrückt«, sagte ich. »Das glaube ich nicht. Das ist ja wie in dem Märchen von Hänsel und Gretel.«
    Eva blieb dabei. »Ich habe mir das nicht ausgedacht«, sagte sie. »Es ist wirklich wahr.«
    Während ich Eva noch immer anstarrte und zu verstehen versuchte, was sie mir gerade erzählt hatte, rief ihre Mutter sie zurück. »Bis später, Hetty«, rief sie mir zu und kletterte wieder hinunter.
    Nachdem sie gegangen war, blieb ich bewegungslos sitzen und versuchte zu verdauen, was ich gehört hatte. Fragen über Fragen gingen mir durch den Kopf. Wie konnte die SS so etwas tun? Niemand würde sich freiwillig in einen Ofen schieben lasen, und der Ofen, den ich mir vorstellte, war natürlich eine Art Küchenherd. Eva spinnt, entschied ich.
    Mama und Papa kamen vom Zaun zurück. Ich empfing sie mit der Frage: »Ist es wahr, dass in Auschwitz Menschen ver-brannnnt werden?«
    Mama schaute Papa an, sie schien unfähig, mir eine Antwort zu geben.
    »Ja, Hetty«, sagte mein Vater.
    »Aber wie machen sie das?«, fragte ich.
    »Wenn die Züge in Auschwitz ankommen, werden Mütter und Kinder von den Vätern getrennt, und man bringt sie zu einem Gebäude, wo sie, wie man ihnen sagt, ein Bad nehmen sollen«, sagte mein Vater. »Sie bekommen ein Handtuch und ein Stück Seife, aber statt Wasser kommt Gas aus den Duschen. Sie haben unsere Menschen erst vergast und dann in riesigen Krematorien verbrannt.«
    Ich war wie versteinert, öffnete den Mund, um etwas zu sa-gen, aber kein Wort kam heraus. Ein Kaleidoskop von Bildern ging mir durch den Kopf. Ich sah meine wunderbare Großmut-irr nach Luft ringen. Ich sah Menschen, die zur Tür rannten und vergeblich versuchten, sie zu öffnen. Als diese Schrecken der Wirklichkeit tiefer in mein Herz sanken, wusste ich, dass unser Leben nie wieder so sein würde, wie es einmal gewesen war. Ich wusste, dass es keine Floffnung mehr gab, unsere Großeltern wiederzusehen, auch sonst niemanden aus unserer großen, viel-leicht dreihundert Menschen umfassenden Familie.
    Meine Mutter weinte an Papas Schulter. Sie wusste also auch, dass sie nicht darauf hoffen konnte, ihre Eltern wiederzusehen. Papa versuchte, so gut er konnte, Mama zu beruhigen. Auch in seinen Augen standen Tränen. Wie hoffnungslos wir uns fühl-ten. Was konnten wir tun? Wir waren hilflos. Ich begann zu be-ten, dass Gott uns die Stärke geben würde, diese unmenschliche Situation zu überstehen. Tränen liefen mir über das Gesicht.
    Mama hatte sich wieder etwas gefasst und streichelte mir die Haare, um mich zu beruhigen. Papa sagte, er müsse jetzt mit Max gehen, denn es war fast schon Sperrstunde.
    Noch lange nachdem das Licht ausgegangen war, konnte man hören, wie die Leute diese furchtbare Nachricht besprachen, die wir an diesem Abend gehört hatten. Jetzt wusste ich, warum ich nicht zum Zaun hatte gehen wollen, um die Frauen zu sehen. Ich hatte etwas Schreckliches um sie herum erahnt, als sie an uns vorbeigegangen waren. Ich hatte ihren Schmerz und ihre Angst gespürt und jetzt litt ich fast noch mehr.
    Als Mutter um drei Uhr wegging, lag ich wach und starrte in die Dunkelheit. Wie, wenn überhaupt, kommen wir je hier heraus?, dachte ich. Warum hilft uns niemand auf der Welt? Ich war froh, als es hell wurde, und beschloss, mich anzuziehen. Ich ging zur Toilette und wusch mir Gesicht und Hände. Ich hatte kein Handtuch dabei und benutzte den Ärmel, um mich abzutrocknen. Meine Hose war schon lange nicht mehr sauber. Als ich zur Baracke zurückkam, war Jackie aufgewacht, und ich sagte ihm, er solle sich anziehen und zum Waschen gehen. Ich gab ihm ein Handtuch, das schon ziemlich benutzt war. Unsere Schuhe waren von den langen Stunden, die wir im Regen auf dem Appellplatz stehen mussten, ausgetreten. Trotzdem waren wir aber im Vergleich mit den Frauen, die aus Auschwitz gekommen waren, immer

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