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Wir Kinder von Bergen-Belsen

Wir Kinder von Bergen-Belsen

Titel: Wir Kinder von Bergen-Belsen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hetty E. Verolme
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noch gut dran, wir hatten immerhin etwas zum Anziehen.
    In unserem Lager wurde es sehr, sehr eng. Immer mehr Baracken waren auf dem Appellplatz errichtet worden. Die neuen Baracken sahen dunkel und bedrohlich aus. Sie hatten kaum Fenster und waren leichter konstruiert. Die dreistöckigen Pritschen standen sehr dicht nebeneinander, um Platz für noch mehr Leute zu schaffen.
    Ein Sturm blies das riesige Zelt hinweg, in dem die Frauen aus Auschwitz untergebracht waren. Die armen Frauen standen da, wehrlos den Naturgewalten ausgesetzt, dem Wind und dem strömenden Regen. Die meisten trugen kaum Kleider oder Schuhe und waren nass bis auf die Haut. In diesem Sturzregen glichen sie eher weißen Gespenstern als Menschen. Nachmittags wurden die Schuhkolonnen ins Lager zurückgeschickt und die Frauen konnten etwas Schutz in den Arbeitsräumen finden. Ein paar Tage später wurden sie in einen anderen Teil des Lagers gebracht. Wir waren erleichtert, dass wir ihre Schreie und ihren ohrenbetäubenden Lärm nicht mehr hörten.
    Die Schuhkolonnen hatten wieder angefangen zu arbeiten, nachdem die Frauen ihre Werkstatt verlassen hatten. Wir ver-missten Vater, der in diesen Tagen die ganze Zeit bei uns gewesen war. Das Wetter war kalt und der feine Regen machte das Mundenlange Stehen auf dem Appellplatz unerträglich. Doch zumindest unsere Füße waren trocken, denn Papa hatte unter seinem dicken Mantel Schuhe für Max, Jackie und mich herein-geschmuggelt. Die Schuhe waren aus schwerem, geöltem schwarzem Leder und hatten Holzsohlen. Sie erinnerten an hol-ländische Klompen. Max und Jackie hatten keine Probleme damit, aber mir tat mein verletzter Fuß weh. Trotzdem war es bes-ser, als gar keine Schuhe zu haben. Papa war ein großes Risiko eingegangen, als er unter den wachsamen Augen der SS diese Schuhe durch das Tor geschmuggelt hatte. Manche Männer wurden dabei erwischt, und das bedeutete Schläge und stundenlanges Stehen am Tor, bei Regen und Wind, bewacht von der SS. Und ihre Essensration wurde für einige Tage gestrichen. Zum Glück war Papa heil durchgekommen.
    Es war Ende November, als Mama uns mitteilte, dass wir in den nächsten vier Wochen jeden Tag um vier Uhr zur Baracke 26 könnten, um eine Tasse Milch zu trinken, Frau Albalas Schwester würde sie uns geben. Als ich fragte, wieso, erzählte sie, dass sie ihren Diamantring verkauft hätte. Sie habe zwanzig große Karrtoffeln bekommen, drei Marmeladengläser mit Zucker und eines mit Salz. Während sie mir die Einzelheiten dieser Tauschaktion erzählte, holte sie ein Glas mit Zucker aus unserem Koffer, achtete aber darauf, es mit ihrem Körper vor neugierigen Augen zu verbergen. Alle waren so hungrig, und würde jemand von unseren zusätzlichen Essensvorräten erfahren, könnten sie leicht gestohlen werden. Also aß man es lieber selbst auf oder tauschte es gegen etwas anderes.
    Wir hatten seit über einem Jahr keinen Zucker mehr gesehen. Mutter machte das Glas auf und gab Jackie, Max und mir einen Teelöffel voll. Genießerisch ließ ich mir den Zucker auf der Zunge zergehen.
    »Ihr werdet jeden Tag einen Teelöffel Zucker bekommen, um euch bei Kräften zu halten«, sagte Mutter.
    Dann zeigte sie uns die riesigen Kartoffeln, die sie zwischen unseren Kleidern im Koffer versteckt hatte, jede fast zwanzig Zentimeter lang. Aber was konnte man mit rohen Kartoffeln anfangen? Ich nahm ein Messer, schnitt von einer Kartoffel ein Stück ab, teilte es in kleinere Teile und gab jedem etwas. Wir waren sehr hungrig, wir waren immer hungrig, und begannen zu essen. Aber die Kartoffel schmeckte schrecklich und trotz meines Hungers brachte ich sie nicht runter. Was sollten wir mit all den Kartoffeln anfangen, wenn wir sie nicht kochen konnten? Mama machte den Koffer zu und sagte: »Ab jetzt muss immer einer von uns auf den Koffer aufpassen. Unser Bett darf auf keinen Fall allein gelassen werden, nicht nur als Schutz gegen Stehlen, sondern auch, um uns zu schützen, falls der Rote Müller zur Inspektion kommt. Du organisierst die Wachen, Hetty, ihr könnt euch abwechseln.«
    »Ja, Mama«, sagte ich.
    Wie glücklich wir waren. Wir fühlten uns wie Millionäre, und als Papa nach Hause kam, führten wir ihm gleich den Schatz vor. Mama gab Papa ebenfalls einen Teelöffel Zucker, obwohl er protestierte und sagte, der Zucker sei nur für uns Kinder.
    Dann erzählte er, was ihm passiert war. Der Rote Müller war abends zu ihnen in die Schuhbaracke gekommen, um ihn zu-sammen mit einem anderen

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