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Wir Kinder von Bergen-Belsen

Wir Kinder von Bergen-Belsen

Titel: Wir Kinder von Bergen-Belsen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hetty E. Verolme
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Abschied. Dann wurde sein Name aufgerufen. Es gab nichts, was wir tun konnten. Er musste uns nun verlassen. Ein letzter Kuss für Mama, und er ging von uns weg, auf das Tor zu, wo ein SS-Mann seinen Namen auf der Liste abhakte.
    Wir sahen, wie er durch das Tor ging und sich zu den anderen Männern stellte, die dort bereits warteten. Unter ihnen war auch Onkel Max. Papa war einer der Letzten, die aufgerufen wurden.
    Jede Frau und jedes Kind versuchte, einen allerletzten Blick auf ihren Liebsten zu erhaschen, und wir wetteiferten um einen Platz am Zaun. Ein Befehl wurde gebrüllt und die Männer setzten sich in Bewegung. Sie sahen genauso grau aus wie das Wetter, nur ihre Augen nicht.
    »Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen!«, riefen wir und winkten den Männern nach, bis sie in der Ferne verschwanden.
    Langsam leerte sich der Appellplatz. Frauen und Kinder suchten die Sachen zusammen, die ihre Männer oder Väter zurückgelassen hatten.
    Wir mussten nichts holen. Still gingen wir zurück in unsere
    Baracke. Niemand sagte etwas. Wir waren alle in unsere Gedanken versunken. In meiner Vorstellung folgte ich meinem Vater auf der Straße zum Bahnhof, wo man ihn mit den anderen in einen Zug verladen würde.
    Aber wohin? Ich sah eine unermessliche Entfernung vor mir, aber ich konnte nichts erkennen. Alles war leer. Papa, wo bist du? Mein Herz schrie nach ihm, aber es bekam keine Antwort. Verzweifelt betrat ich die Baracke, aber noch immer konnte ich nicht weinen.
    Nachdem ich auf das Bett hinaufgeklettert war, wagte ich es zum ersten Mal, Mama anzuschauen. In ihren Augen konnte ich den Schmerz über Papas Weggehen sehen. Was hätte ich sagen können? Ich spürte ihren Schmerz und wusste, dass ich etwas sagen musste.
    »Mama«, sagte ich, »Papa wird es gut gehen.«
    »Glaubst du?«, antwortete sie. Wie ein erschrockenes Kind brauchte sie Bestätigung.
    »Ich bin mir ganz sicher«, sagte ich. »Du darfst dich nicht niederdrücken lassen. Wir werden ihn bald wiedersehen. Er hat es gesagt und ich glaube es. Du weißt doch, wie optimistisch er immer ist. Er wird überleben.« Von irgendwoher kamen diese Worte zu mir, und ich war froh, dass meine Mutter sich durch sie beruhigen ließ. Seltsamerweise beruhigten sie auch mich selbst.
    Mama hob den Kopf und betrachtete die beiden Jungen, die still dabeigesessen hatten, während ich mit ihr sprach. Sie umarmte sie beide auf einmal und sagte: »Wir müssen es zusammen schaffen, jetzt, wo Papa nicht mehr da ist.«
    Die Jungen nickten.
    »Nun«, sagte Mama, »wir sollten jetzt etwas unternehmen, damit Max heute Nacht hier schlafen kann.«
    Sie öffnete den zweiten Koffer, nahm die wenigen Sachen heraus und sagte zu Max, er solle den leeren Koffer unter die unterste Pritsche schieben. Niemand würde den Koffer stehlen, da wir nun nirgendwohin zu gehen hatten. Mama packte alles in den anderen Koffer und stellte ihn aufrecht ans Fußende, sodass Max noch Platz fand. Irgendwie würde es gehen.
    Später an diesem Tag teilten wir uns die letzten Kartoffeln und aßen etwas von unserer Brotration. Manchmal starrte Mama vor sich hin, dann wussten wir, dass ihre Gedanken weit weg wanderten. Wir fühlten uns verlassen und niedergedrückt und waren alle froh, als es Zeit zum Schlafengehen war. Wir mussten uns Platz suchen, nun, da Max an unserem Fußende lag. Er war sofort eingeschlafen. Mama lag noch einige Zeit wach, doch dann hörte ich an ihren regelmäßigen Atemzügen, dass sie schlief. Ich lag viele Stunden lang da, dachte an Papa und betete, Gott möge ihn beschützen.
    Als Mama am nächsten Morgen zur Arbeit ging, legte Max sich neben mich. Wir schliefen bis halb sieben und wachten auf, weil Jackie uns weckte und sagte, der Kaffee sei da. Wie üblich holte ihn Max. Er nahm einen Napf, weil er den leichter tragen konnte als drei Becher. Wir tranken das warme, braune Wasser, damit uns etwas wärmer wurde.
    »Was glaubst du, wo Papa jetzt ist?«
    »Ich weiß es nicht«, antwortete ich.
    Es wurde still zwischen uns. Ich nahm eine Brotration aus dem Koffer, das Brot war dunkel und trocken. Ich schnitt drei sehr dünne Scheiben ab, vielleicht ein viertel Zentimeter dick, von der Tagesration von etwa drei Zentimeter Dicke. Das musste uns reichen, bis die Suppe kam. Gerade als wir uns für den Appell fertig machten, erfuhren wir, dass es heute keinen Appell geben würde. Deshalb blieben wir alle drei auf dem Bett sitzen.
    Es war der fünfte Dezember 1944, Nikolaustag, der Tag, an dem alle Kinder in

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