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Wir Kinder von Bergen-Belsen

Wir Kinder von Bergen-Belsen

Titel: Wir Kinder von Bergen-Belsen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hetty E. Verolme
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lag.
    »Hetty, pass an meiner Stelle auf die Jungen auf«, sagte Mama wieder. »Besonders auf Jackie, er ist in den letzten Jahren oft krank gewesen.«
    »Ja, Mama«, versprach ich. Wir waren uns jetzt beide klar darüber, dass unsere letzten gemeinsamen Minuten schnell vorbeigingen.
    »Ach«, sagte Mama, »fast hätte ich vergessen. Hier ist der Läusekamm.« Sie nahm ihn aus ihrer Manteltasche. »Halte deine Haare sauber und die der Jungen auch.«
    Ich nickte und steckte den Kamm in die Tasche. In all den Monaten im Lager hatte meine Mutter es geschafft, ihre und unsere Haare frei von Läusen zu halten. Sie nahm mich in den Arm und küsste mich wieder und wieder. Ich klammerte mich an sie, denn ich wusste, dass sie gleich gehen musste. Wir weinten beide nicht. Unsere Augen waren trocken, aber unsere Herzen bluteten.
    »Komm«, sagte Mama, »ich muss mich von den Jungen verabschieden.«
    Wir nahmen unsere Koffer, gingen hinaus und fanden die
    Jungen an der Stelle, an der ihnen Mama zu warten befohlen hatte.
    Mama umarmte sie, sie weinten bitterlich.
    »Ganz ruhig, ihr müsst nun große Männer sein und auf das hören, was Hetty sagt. Sie wird ab jetzt für euch sorgen. Ihr müsst zusammenbleiben und nach dem Krieg nach Amsterdam zurückkehren, zur Familie Pomstra. Vergesst das nicht, meine Lieblinge.« Und wieder küsste sie die beiden.
    »Bringt ihr eure Mama zum Tor?«, sagte sie, während sie sich langsam aufrichtete.
    Sie nahm ihren Koffer. Die Jungen hingen an ihrem Mantel, als wir langsam zum Tor gingen. Wir waren bis auf fünf Meter herangekommen, da zog Herr Weiss die Jungen sanft von Mama weg. Mama beugte sich zu mir, um mir einen letzten Kuss zu geben, dann küsste sie die Jungen. Sie klammerten sich jetzt an mich und weinten verzweifelt. Auch ich konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten, als ich sah, wie Mama, mit Hilfe einer anderen Frau, mit ihrem Koffer auf die Ladefläche des Lastwagens kletterte. Es war ein Albtraum zu sehen, wie Mama denselben Weg nahm wie Papa am Tag zuvor.
    Wir rannten zum Zaun, um die letzten Sekunden nicht zu verpassen, in denen wir unsere Mutter sehen konnten. Als der Lastwagen anfuhr, rief Mama: »Seid brav, meine Kinder, lebt wohl!« Wir winkten und winkten und riefen unsere Abschiedsgrüße. Alle weinten und uns brach das Herz.

6. Kapitel
    Als der Lastwagen mit unserer Mutter in der Ferne verschwunden war, drehte ich mich um und bemerkte zum ersten Mal die Gruppe von etwa vierzig Kindern vor dem Zaun. Sie waren zwischen zehn Monaten und achtzehn Jahren alt, die meisten unter zehn. Ein paar Frauen aus der Krankenstation kümmerten sich um die Babys und die ganz Kleinen.
    »Gehen wir jetzt zu unseren Baracken zurück?«, fragte ich Herrn Weiss, der uns zum Zaun gefolgt war.
    »Nein, Hetty«, sagte er. »Gleich wird ein Lastwagen für alle Kinder kommen. Ihr geht alle weg.«
    Hoffnung flackerte in mir auf, wir könnten unserer Mutter folgen; aber das würde wohl nicht passieren.
    Wir standen herum oder saßen auf unseren Koffern. Den Kindern war anzusehen, dass sie unter Schock standen, ich auch. Die Grausamkeit des Geschehenen hatte alle tief getroffen. Einige Frauen liefen mit weinenden Babys auf und ab, kleine Kinder irrten ziellos auf dem abgesperrten Gelände herum und schrien nach ihren Müttern. Von irgendwoher kamen ein paar Flaschen Milch für die weinenden Babys. Ihre »Betreuerinnen« fütterten sie.
    Obwohl wir uns noch innerhalb der Grenzen unseres eigenen Lagers befanden, wurden wir von zwei bewaffneten Wachleuten bewacht, die außerhalb des Zauns standen. Herr Weiss war schon ein paar Mal zu uns gekommen, konnte jedes Mal aber nur kurz bleiben. Seine Anwesenheit wirkte beruhigend, doch  wenn er ging, fingen die Kinder wieder an zu weinen. Endlich, gegen vier Uhr, kamen die Lastwagen, die uns abholen sollten. Herr Weiss und ein paar andere Männer bekamen die Erlaubnis, uns beim Aufsteigen zu helfen. Sie hoben die Kinder eines nach dem anderen auf die Ladefläche, die Babys wurden einem anderen Mädchen und mir in die Hand gedrückt. Wir waren die Ältesten.
    Mit traurigen Gesichtern winkten uns Herr Weiss und die wenigen anderen Männer nach, als sich der Lastwagen in Bewegung setzte. Die Kinder hatten aufgehört zu weinen. Die Fahrt auf dem Lastwagen lenkte sie von ihrem Unglück ab. Unser Lager lag hinter uns, wir kamen am Häftlingslager vorbei. Die Menschen dort standen immer noch auf dem Appellplatz, es mussten jetzt schon mindestens acht Stunden

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