Wir Kinder von Bergen-Belsen
den Niederlanden mit Süßigkeiten und Spielsachen verwöhnt wurden.
Ungefähr um neun Uhr kam auf einmal Mama in die Baracke.
»Was ist los, Mama? Warum bist du schon von der Arbeit zurück?«, fragte ich.
»Wir gehen auf einen Transport«, sagte sie.
Ich erschrak furchtbar. »Was? Wohin?« Das Gefühl einer drohenden Katastrophe packte mich. Auch die Jungen waren erschrocken.
»Wir müssen unsere Sachen packen«, sagte Mama. »Wir müssen um elf fertig sein.«
Mamas ruhige Worte wirkten auch besänftigend auf uns. Wie stark sie ist, dachte ich. Sie weiß, dass sie um unseretwillen ruhig bleiben muss.
»Gott wird uns beschützen, glaub mir«, sagte sie und schaute mich an.
Ich war nicht so sicher. Wie konnte Gott zulassen, dass wir so viel Leid erfuhren?
Mama sagte zu Max, er solle den Koffer von seinem Platz unter der Pritsche heraufholen. Ich half ihr, die Decken und Laken zusammenzulegen. Es dauerte nicht lange, zwei Decken und zwei Laken zu falten und in den Koffer zu packen. Die dritte Decke passte leicht in den anderen, zusammen mit den wenigen Kleidungsstücken, die uns geblieben waren, unter denen Mama sorgfältig die Marmeladengläser mit Zucker und Salz versteckte. Es dauerte kaum zwanzig Minuten, da waren wir mit allem fertig. Mama schickte Max und Jackie los, sie sollten sich Gesicht und Hände waschen und noch einmal auf die Toilette gehen. Als sie zurückkamen, gingen Mama und ich.
Inzwischen war es fast zehn Uhr und uns blieb noch eine Stunde des Wartens. Wir saßen auf unserem Bett. Viel sprachen wir nicht. Ab und zu kam jemand zu uns und wünschte uns alles Gute. Die Frau von der untersten Pritsche sagte, sie und ihre Schwester würden unser Bett übernehmen, wenn wir weg waren.
»Natürlich«, sagte Mama.
Wir waren hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Vielleicht kamen wir ja in ein besseres Lager. Wohin würde man uns bringen? An die Möglichkeit, dass wir an einen schlimmeren Ort geschickt würden, wollte ich nicht denken.
Inzwischen war es halb elf.
»Wir sollten lieber hinausgehen und schauen, was los ist«, sagte Mama.
Wir stiegen hinunter, die Jungen reichten uns die Koffer. Während die Jungen herunterkamen, kletterte die Frau von unten schon hinauf, um unser Bett in Besitz zu nehmen, bevor es jemand anders tun würde. Mama und ich trugen die beiden Koffer.
Aber wir gingen nicht gleich zum Tor, wir blieben in der Nähe der Baracke. Von unserem Platz aus konnten wir beobachten, was auf dem Appellplatz vor sich ging. Viele Frauen mit ihrem Gepäck und ihren Kindern hatten sich dort versammelt, mit ihren Freunden oder Verwandten, die sich von ihnen verabschieden wollten.
Zehn Minuten vor elf kam Albala zum Tor, wir konnten auch Herrn Weiss erkennen. Kurz darauf sprangen drei SS-Offiziere von einem Lastwagen, der vor dem Tor auf der Straße hielt. Wir konnten sehen, wie einer von ihnen mit Albala sprach. Der nickte und hielt die Liste, die der SS-Mann ihm gegeben hatte, einem seiner Leutnants hin. Herr Weiss war bereit zu übersetzen, da nicht alle Frauen Deutsch verstanden. Mehr und mehr Abschiednehmende hatten sich auf dem Appellplatz versammelt, nun war uns der Blick auf das Tor genommen. Wir sahen, dass einige Frauen zum Tor gingen. Die Kinder konnten wir nicht sehen, da die Erwachsenen den Blick versperrten. Plötzlich entstand Bewegung am Tor. Eine Frau schrie hysterisch: »Mein Baby, mein Baby, ich will mein Baby!« Eine andere Frau schrie: »Nein! Nein!« Und dann hörten wir die SS-Männer brüllen: »Los, weiter! Weiter!«
»Du lieber Gott, wir müssen die Kinder zurücklassen«, sagte Mama. »Sie lassen sie nicht mit uns gehen.«
Ich war wie betäubt vor Schreck und brachte kein Wort heraus.
»Los, Hetty, schnell, wir müssen mit den Koffern zurück in die Baracke, wir haben keine Zeit zu verlieren«, befahl Mama.
Ich ging zurück, Mama folgte mir. Die Baracke war verlassen, alle schauten draußen zu. Erst als wir drin waren, befahl mir Mama, meinen Koffer zu öffnen, und sie klappte ihren auf. Blitzschnell stopfte sie eine Decke und ihre Kleider in einen der Koffer. Auch ein halb volles Zuckerglas packte sie dazu.
»So, Hetty, ich möchte, dass ihr, du und die Jungen, ab und zu einen Löffel Zucker esst, aber geh vorsichtig damit um, denn du kannst Zucker auch gegen Brot oder etwas anderes tauschen, das du brauchst. Versprich mir das.«
»Ja, Mama«, sagte ich und spürte die ungeheure Verantwortung, die nun auf meinen Schultern
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