Wir Kinder von Bergen-Belsen
hinunter, um die Kleinen zu beaufsichtigen, die, so jung sie auch waren, unsere schwierige Lage zu erkennen oder zu erfühlen schienen, denn als sie sich in unserer Gruppe sicher fühlten, weinten sie auch nicht mehr. Wir hatten ein Dach über dem Kopf, wir hatten Betten und für heute auch genug zu essen. Bald fingen auch einige der kleineren Jungen an, beim Durchsuchen der Koffer zu helfen. Wenn sie etwas fanden, brachten sie es zu mir auf das Bett. Als der letzte Koffer durchsucht war, enthielt unser Vorrat zwei Päckchen steinharte Kekse, ein halbes Päckchen süßen Zwieback, eine kleine halb leere Dose Tee, eine halb leere Dose Kakao, eine sehr kleine Tüte Waschpulver und eine fast leere Dose Milchpulver.
Die Jungen kamen zur Besichtigung herauf. Es war offensichtlich, dass diese Vorräte nicht dazu dienen konnten, uns zu ernähren, abgesehen von den paar Keksen und dem bisschen Milchpulver für die Babys. Sie würden unseren Hunger in den kommenden Tage nicht stillen können. Ich packte alle Sachen in unseren Koffer und nahm ihn unter meine Aufsicht. Zu den Jungen sagte ich, sie sollten die Koffer in einer Ecke des Raums aufeinander stapeln. Sie waren froh, etwas zu tun zu haben, und erledigten den Auftrag wunderbar. Auf diese Art hatten wir jetzt mehr Platz und eine freie Fläche.
Der Tag ging vorbei. Niemand kam zu uns und es war uns ganz recht. Es war, als lebten wir in einer eigenen Welt. Das gab uns die Möglichkeit, uns von dem Trauma zu erholen, das wir am Tag zuvor erlebt hatten. Als es langsam dunkel wurde, verteilte ich, zusammen mit Iesie und Eva, die andere Hälfte der Brote. Für die Babys machte ich wieder Brei, genau wie morgens. Wir hatten noch immer eine viertelvolle Schachtel mit Brot für den nächsten Tag. Aus Sicherheitsgründen nahm ich die Brotschachtel zu mir auf die Pritsche. Alle gingen früh ins Bett, und es dauerte nicht lange, da waren wir eingeschlafen.
Am folgenden Tag gingen ein paar Jungen nach dem Frühstück hinaus, um sich umzuschauen. Es war sehr still in diesem Lagerbereich. Als die Jungen zurückkamen, sagten sie, es gebe noch ein paar andere Baracken in diesem Abschnitt des Lagers, aber die meisten seien leer, sie hätten niemanden herumlaufen sehen. Iesie und Max hatten eine Baracke mit Frauen entdeckt, die alle im Bett lagen und richtig unheimlich aussahen, mit knochigen Gesichtern und tief eingesunkenen Augen. Ich verbot ihnen, noch einmal hinzugehen, denn ich hatte Angst, die Frauen könnten an einer schrecklichen Krankheit leiden.
Ich selbst war noch nicht draußen gewesen, weil die kleinen
Kinder mich brauchten. Sie sahen so verloren aus, und obwohl sie alle auf einmal aufgehört hatten zu weinen, rief doch ab und zu eines nach seiner Mama. Das zehn Monate alte Baby, das Phi-lipje hieß, war sehr still. Der Kleine lag meist nur einfach da und starrte in die Luft. Hin und wieder huschte ein Lächeln über sein Gesicht, wenn ich leise zu ihm sprach oder ihn unter dem Kinn kitzelte. Eine tiefe Traurigkeit ging von ihm aus, bestimmt vermisste er seine Mama. Er hatte bis jetzt auch noch nicht versucht, sich aufzusetzen. Er war nicht mager, seine Mutter musste es irgendwie geschafft haben, ihn ausreichend zu ernähren. In gewisser Hinsicht war ich froh, dass er so brav war. Das verschaffte mir genügend Zeit, mich auch um die anderen Kinder zu kümmern. Das zweite Baby schätzte ich auf ungefähr ein Jahr, aber ich war mir nicht sicher. Es war ein Mädchen und niemand wusste ihren Namen. Dann gab es noch den kleinen Robbie, der ungefähr drei war. Er hatte ein sehr hübsches Gesicht, blonde Haare und blaue Augen. Er sagte nie ein Wort, auch wenn er angesprochen wurde. Er sah so verloren und einsam aus, der arme, kleine Robbie. Manchmal nahm ich ihn in den Arm, aber er lächelte nie. Es war, als habe er eine undurchdringliche Mauer um sich errichtet. Ich beschloss, besonders auf ihn zu achten, vielleicht würde ich eines Tages sein Vertrauen gewinnen. Langsam wusste ich die Namen der meisten Kinder.
Man kann kleine Mädchen und Jungen nicht ständig im Raum halten, sodass immer wieder ein paar von ihnen hinausliefen und dann bald wiederkamen. Sie berichteten, die Latrinen seien funkelnagelneu, wir seien anscheinend die ersten Bewohner in diesem Teil des Lagers. Am Nachmittag musste ich selbst hinaus und einer der Jungen zeigte mir den Weg. Es war sehr friedlich hier, nichts war zu hören. Der Himmel war hellgrau, die Luft frisch, aber nicht kalt. Ich war
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