Wir Kinder von Bergen-Belsen
sich eine großzügige Portion Suppe. Wir saßen auf dem Boden, um die Behälter, als hätten wir Angst, sie könnten verschwinden. Die Suppe schmeckte wunderbar. Niemand sprach, während wir dieses köstliche Mahl zu uns nahmen, ein Mahl, von dem wir in den letzten zehn Monaten nur hätten träumen können. Durch den Dampf, der aus dem offenen Behälter aufstieg, traf mein Blick den von Iesie. Wir wussten, dass wir uns jetzt keine Sorgen mehr darüber machen mussten, wie wir die Kinder in den nächsten zwei Tagen satt kriegen sollten.
Als ein paar Jungen eine zweite Portion nehmen wollten, sagte ich ihnen, sie sollten es nicht tun. Zu viel von einer so reichhaltigen Nahrung könne sie krank machen. Stattdessen sollten wir jetzt alle wieder ins Bett gehen. Bram legte den Deckel zurück auf den Behälter, schloss aber die Klammern nicht, damit er sich morgen leichter öffnen lassen würde. Iesie legte einen kleinen Koffer auf den Deckel, als Beschwerung, damit die Suppe warm blieb. Danach gingen wir alle ins Bett und waren sehr schnell eingeschlafen.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, entdeckte ich, dass der Koffer, der auf meinem Bett lag, offen stand. Das kam mir seltsam vor, ich war sicher, ihn am Abend geschlossen zu haben. Ich kontrollierte den Inhalt. Kein Zucker fehlte, die Marmeladengläser waren noch da. Bei nochmaligem Kontrollieren entdeckte ich aber, dass die Hälfte der süßen Kekse fehlte. Ich rief Iesie und Max herüber, um dre Sache mit ihnen zu besprechen. Ich war wütend und in meiner Wut sprach ich ziemlich laut. Beide hatten keine Ahnung. Die meisten von uns waren am Abend doch gar nicht hungrig gewesen. Uns war nur klar, dass wir, um zu überleben, den Diebstahl nicht tolerieren durften. Loukie kam auf das Bett und unterbrach uns.
»Hetty, ein kleiner Junge hat gesagt, es sei Emile gewesen.«
Mir fiel ein, dass Emile bereits früher einmal so etwas getan hatte. Aber ich musste mir sicher sein, deshalb sagte ich zu Loukie, er solle den kleinen Jungen zu mir bringen. Loukie stieg hinunter und kam mit ihm zurück. Von oben, von meinem Bett aus, fragte ich den Kleinen, dessen Namen ich nicht wusste: »Sag mir, woher weißt du denn, dass Emile die Kekse gestohlen hat?«
»Ich habe ihn heute Morgen Kekse essen sehen«, antwortete er.
»Bist du sicher?«
»Ja, ich bin sicher«, sagte er.
»Das stimmt«, sagte ein kleines Mädchen. Sie stand neben Loukie und dem Jungen und hatte das Gespräch interessiert verfolgt.
»Wenn du jemanden beschuldigst, musst du sehr sicher sein«, sagte ich zu ihr.
»Es stimmt aber«, sagte das Mädchen. »Es stimmt, weil ich es auch gesehen habe. Er hat drei Kekse gegessen, dort in der Ecke.« Sie deutete zum Ende der letzten Bettreihe, und ich stellte fest, dass ich die Stelle, die sie anzeigte, von meinem Bett aus nicht sehen konnte.
»Wo ist Emile?«, fragte ich Loukie. »Ich will mit ihm sprechen.«
»Ich glaube, er ist ein bisschen hinausgegangen«, sagte er.
»Such ihn und nimm Jackie mit«, verlangte ich.
Jackie und Loukie verließen die Baracke durch die Hintertür.
»Was sollen wir mit ihm machen?«, sagte ich zu Iesie und Max. »Er scheint unverbesserlich zu sein.«
»Warte, bis wir gehört haben, was Emile zu sagen hat«, sagte Iesie.
Ich nickte. »Du hast Recht. Wir werden ihn erst einmal anhören.«
Die anderen Kinder im Raum hatten inzwischen mitbekommen, was passiert war. Sie waren über ihr Alter hinaus klug, diese Kinder, und die meisten hatten gelernt, die schweren Zeiten und die kritischen Situationen durchzustehen, die sie seit ihrer Ankunft in Bergen-Belsen immer wieder hatten erleben müssen. Die gute Laune, die sich ausgebreitet hatte, weil uns eine wunderbare Kartoffelsuppe zum Frühstück erwartete, verschwand und machte einer niedergedrückten Stimmung Platz.
Wegen dieses unangenehmen Zwischenfalls hatte ich vergessen, den Kindern etwas zu essen zu geben. Ich stieg hinunter und sagte allen, sie sollten sich in einer Reihe aufstellen, um ihre Suppe zu bekommen. Es war herzerwärmend, ihre Gesichter zu sehen. Iesie hob den Koffer vom Deckel des Behälters. Die Suppe war noch immer warm. Die Kinder hielten ihre Näpfe hin und Eva füllte einen nach dem anderen. Bald hatten alle etwas bekommen. Iesie und ich waren die Letzten.
Ich setzte mich gerade auf einen Koffer, um zu essen, als Loukie und Jackie mit Emile zurückkamen. Ich wollte die glückliche Stimmung nicht verderben und außerdem die unangenehme Situation noch
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