Wir Kinder von Bergen-Belsen
Polnisch an.
Als sie sah, dass ich sie nicht verstand, fragte sie auf Deutsch: »Jüdische Kinder?«
Ich zögerte kurz, bevor ich nickte. Die Frau sprach plötzlich erregt auf die andere ein. Um was es ging, wusste ich nicht. Dann sagte sie »Hunger« und machte eine Bewegung mit der Hand zum Mund, um sicherzugehen, dass ich sie verstand. Ich hielt es für ratsamer, ihr nicht zu sagen, dass wir abends Brot gegessen hatten, dachte an morgen und nickte.
»Ich komme zurück«, sagte sie, und dann verließen beide die Baracke. Ich starrte noch immer die Tür an, denn die ganze Szene hatte sich in Windeseile abgespielt.
Iesie kletterte wieder auf mein Bett herauf.
»Was war los?«, fragte er.
Ich erklärte ihm, was passiert war.
»Was meinst du?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht. Es hat mir aber nicht gefallen, dass sie mich gefragt hat, ob wir jüdische Kinder sind.«
Iesie nickte.
»Ich hoffe, dass wir heute Nacht nicht umziehen müssen, die Kinder schlafen so schön«, sagte ich.
»Wir sollten lieber auch schlafen«, sagte Iesie. »Es nützt niemandem, wenn wir wach bleiben. Morgen sehen wir weiter.«
Er ging vorsichtig zu seinem Bett, um seinen Schlafgenossen nicht zu wecken. Ich beschloss, ebenfalls zu schlafen. Als ich ne-ben Max lag, unter der Decke, dachte ich über die beiden Frauen nach. Ich war erstaunt, dass sie nicht froren. Sie hatten beide nur Baumwollblusen angehabt, mit kurzen Ärmeln, und trotzdem hatten sie so stark und gesund ausgesehen. Ihre Haare, die ihnen nicht abgeschnitten worden waren, trugen sie beide unter einem Kopftuch, wie es russische Bäuerinnen tun. Von den beiden hatte die kleinere Frau zweifellos das Sagen.
Schritte im Korridor weckten mich. Ich fuhr hoch und zitterte am ganzen Körper vor Angst, was als Nächstes passieren würde. Ich konnte Stimmen hören. Die Schritte kamen näher, dann ging die Tür auf. Die beiden Frauen waren zurückgekommen, gefolgt von vier weiblichen Häftlingen, die zwei Essensbehälter trugen, ungefähr halb so groß wie die, die wir kannten. Die kleinere Frau befahl, die Behälter in der Mitte des Zimmers abzustellen, dann schickte sie die Häftlinge weg. Von oben, von meinem Bett aus, beobachtete ich alles mit großer Erleichterung. Als ich sie im Korridor gehört hatte, hatte ich wirklich gefürchtet, wir müssten wieder umziehen.
Die beiden Frauen betrachteten die schlafenden Kinder, dann wandten sie sich zum Gehen. An der Tür drehte sich die kleinere Frau um, schaute mich an und sagte: »Fangt an zu essen.«
Ein paar Kinder waren aufgewacht. Iesie, Max und Emile waren aus dem Bett gesprungen und untersuchten die Essensbehälter. Ich stieg hinunter, um auch etwas zu sehen. Iesie versuchte, den Deckel von einem Behälter zu öffnen, aber es gelang ihm nicht. Der Deckel saß fest. Inzwischen war Bram zu uns gekommen. Er packte eine Art Griff, wobei es ihm lediglich gelang, den Deckel ein bisschen zu lüften. Er bekam den Hebel einfach nicht hoch genug, um die Federung zu lösen, die ihn auf den Deckel drückte. Bram ließ die Verriegelung wieder los.
»Gut«, sagte ich, »Wenn Bram noch einmal versucht, den Riegel aufzukriegen, haltet ihr beiden, Iesie und Max, den Behälter fest, und Bram zieht, so fest er kann, damit der Hebel nicht wieder zurückspringt. Und dann zieht ihr alle drei am Hebel und ich zähle bis drei.«
Max und Iesie stellten sich in Position, Bram legte die Hand um den Griff und sagte: »Seid ihr bereit?«
»Ja«, sagten Max und Iesie.
Bram zog mit aller Kraft. Als der Hebel hoch genug war, dass Max und Iesie ihn auch ergreifen konnten, fing ich an zu zählen. »Eins ... zwei ... drei.« Die Jungen begannen mit aller Kraft am Hebel zu ziehen. Ihre Gesichter waren rot vor Anstrengung. Aber sie waren nicht sehr stark. Zehn Monate langsamen Ver-hungerns hatten ihren Tribut verlangt. Langsam bewegte sich der Hebel nach oben, und dann, mit einem leisen Klick, gab er den Deckel frei. Außer Atem, doch erregt von ihrem Sieg, brauchten sie nur eine Sekunde, um auch den zweiten Hebel loszubekommen, denn der Druck war durch die Öffnung des ersten Hebels geringer geworden.
Inzwischen waren immer mehr Kinder aufgewacht und kamen aus ihren Betten, um zu sehen, was vor sich ging. Iesie hob den Deckel an. Ein wunderbarer Duft drang in unsere Nasenlöcher. In dem Behälter war eine dicke, cremige Kartoffelsuppe.
Wir konnten unser Glück kaum fassen. Blitzschnell waren alle aus den Betten, besorgten sich Essnäpfe und schöpften
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