Wir Kinder von Bergen-Belsen
Zucker noch da war. Er war noch da, und ich überlegte, es sei das Beste, ein bisschen zu schlafen. Ich schlief die ganze Nacht hindurch und erwachte beim ersten Morgenlicht.
Ich hatte Bram und Eva nicht zurückkommen gehört. Beide schliefen noch. Ich fragte mich, was sie den ganzen Tag über machten. Was mich betraf, wusste ich, was ich tun würde. Sobald es möglich war, würde ich die Kinder aufsuchen. Ich ging also im Lauf des Vormittags hin und half bei den Arbeiten, wie ich es am Tag zuvor getan hatte. Als die Essenszeit kam, war es ganz normal, dass ich auch meinen Anteil erhielt. Manchmal fiel mir auf, dass Schwester Luba mich beobachtete, aber nie sagte sie etwas zu mir. Das war mir nur recht, denn ich hatte noch immer Angst vor ihr und bemühte mich, ihr nicht zu nahe zu kommen. Doch als ich gehen wollte, hielt sie mich an der Tür zurück und fragte, ob ich wisse, wo sie etwas Zucker herbekommen könne. Sie habe Beziehungen zur Küche und wolle gern einen Kuchen für die Frau Doktor backen lassen, die am nächsten lag Geburtstag hatte.
Mein erster Gedanke war: Welches Kind hat sich verplappert? Jemand musste ihr von meinem Vorrat erzählt haben. Was sollte ich tun? Das Leben meiner Brüder hing von dieser Frau ab. Ich entschied mich schnell.
»Ich habe etwas Zucker«, sagte ich. »Ich werde ihn gleich für Sie holen.«
Schnell ging ich zu meiner Baracke, wobei ich denjenigen verfluchte, der es ihr gesagt hatte. Ich nahm ein volles Glas mit Zucker aus dem Koffer, das ich, mit einer Hand haltend, unter meinem Mantel versteckte, und hoffte, dass niemand bemerkte, welchen Schatz ich da trug. Mir wurde klar, wie wehrlos ich war, wenn jemand versuchen würde, mich zu berauben, doch meine Rückkehr zur Kinderbaracke verlief ohne Zwischenfall. Schwester Luba erwartete mich schon an der Tür und lud mich in ihren Privatbereich ein, wo sie und die Frau Doktor schliefen.
Ich holte das Zuckerglas unter meinem Mantel hervor. Sie brachte eine weiße Kaffeetasse. Ich nahm den Deckel vom Glas und kippte den Zucker in die Tasse. Als sie halb voll war, zögerte ich, ich wollte aufhören, aber Schwester Luba drückte die Tasse gegen das Glas, als Zeichen, dass sie mehr wollte. Mit blutendem Herzen sah ich, wie die Zuckermenge in meinem Glas immer mehr abnahm. Als die Tasse fast voll war, gab mir Schwester Luba ein Zeichen, dass es genug war. Ich hörte auf und schraubte den Deckel fest zu. Das Glas war nur noch zu einem Drittel gefüllt.
Schwester Luba fragte mich, was ich für den Zucker haben wolle.
»Nichts«, sagte ich. »Seien Sie nur gut zu meinen Brüdern.«
Sie schaute mich ungläubig an. Dann bedankte sie sich über-schwänglich und versprach, der Frau Doktor zu sagen, dass ich ihr den Zucker gegeben hatte.
Bevor ich ging, gab ich Max und Jackie jedem einen Löffel Zucker zu essen, ebenso Iesie, der noch immer krank im Bett lag. Er hatte gesehen, wie ich Max und Jackie etwas gegeben hatte, und so wollte ich ihn nicht auslassen.
Als ich am nächsten Tag gegen elf Uhr zu den Kindern kam, rief mich Schwester Luba in ihren Privatbereich. Sie zeigte mir einen Teller mit drei kleinen Kuchen und sagte, die würde sie unter den Kindern aufteilen. Am späten Nachmittag gab sie jedem Kind ein winziges Stück. Der Kuchen schmeckte wunderbar, obwohl das Stück so klein war, reichte aber natürlich nicht aus, unseren Hunger zu stillen. In den letzten Tagen schien es schwierig gewesen zu sein, etwas zu essen für die Kinder aufzutreiben. Vorher waren wir verwöhnt worden, mit Kartoffelsuppe und Reis, aber in der letzten Zeit hatten wir nur eine halbe Scheibe Brot am Tag bekommen. Die Kinder wurden wieder lustlos und etliche bekamen schwere Erkältungen.
Es war kälter geworden und in der Baracke gab es keine Heizmöglichkeit. Max musste zwei Tage lang mit hohem Fieber im Bett bleiben. Ich fand in meinem Koffer noch ein paar Aspirintabletten und gab ihm eine, woraufhin das Fieber sofort sank. Wir trugen fast alle Kleidungsstücke, die wir besaßen, übereinander, um uns zu wärmen: zwei Pullover, zwei Paar Socken und unsere Mäntel. Ich behielt mein rotes Seidenkopftuch Tag und Nacht auf, um meine Ohren warm zu halten.
Es muss Weihnachten gewesen sein, als wir eines Tages die Männer auf den Wachtürmen Weihnachtslieder singen hörten. Die Verpflegung in der Kinderbaracke wurde immer spärlicher, bis eines Morgens ein paar Kisten mit großen Karotten ankamen. Die rohen Karotten waren schrecklich, aber zumindest
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