Wir Kinder von Bergen-Belsen
das Mädchen mit dem roten Kopftuch holen soll. Du musst gleich runterkommen.«
Mit klopfendem Herzen glitt ich vom Bett. Maxie zerrte mich am Ärmel meines Mantels, und einen Moment zögerte ich, wegen der beiden Aufseherinnen. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und lief schnell an ihnen vorbei, während sie sich immer noch eifrig unterhielten. Draußen seufzte ich erleichtert. Wir rannten den ganzen Weg zur Kinderbaracke. Als wir am Krankenhaus vorbeikamen, konnten wir sehen, dass die Kranken draußen zusammengetrieben wurden, mit viel Geschrei und dem Gebrauch von Peitschen. Ich erkannte eine Frau, die mit einem Geschäftsfreund meines Vaters verheiratet war. Sie erwartete ein Baby und sah sehr müde aus. Alle wurden von den Kapos in Reihen aufgestellt.
Als Maxie und ich schwer atmend in der Kinderbaracke ankamen, standen Schwester Luba und die Frau Doktor an der Tür. Schwester Luba erzählte, dass unser Lager evakuiert werde, nur die Kinder würden hier bleiben. Die Frau Doktor wolle Kommandant Kramer fragen, ob ich bei den Kindern bleiben dürfe. Sie nahm meine Hand, und wir gingen zurück zu dem Bereich, wo die Kranken in Reihen standen. Als wir näher kamen, konnte ich einen großen Mann sehen, der für sich allein stand. Seine schwarze Uniform war fleckenlos sauber, und seine Stiefel glänzten so sehr, dass sie das Licht reflektierten. Wir blieben in respektvoller Entfernung, mindestens zwanzig Meter, still stehen. Er ließ sich nicht anmerken, ob er uns gesehen hatte.
Während wir darauf warteten, bemerkt zu werden, hatte ich die Gelegenheit, ihn näher zu betrachten. Er war sehr groß, seine Haare waren kurz geschnitten und ließen einen Nacken frei, der so wulstig war wie bei einer Bulldogge. Ständig schlug er mit seiner Peitsche gegen einen seiner Stiefel. Wie Cäsar stand er da und überblickte die Aufreihung der Kranken. Dem Kommandanten zuliebe verhielten sich die Aufseher und die Kapos noch grausamer zu den armen Menschen.
Die Frau Doktor und ich warteten still, ohne auch nur einen Muskel zu rühren. Die Minuten dehnten sich wie Stunden, bis Kommandant Kramer sich zu uns umdrehte. Er sagte ein Wort zur Frau Doktor, mich ignorierte er. »Jawohl!« Dieses Wort war ein Befehl.
»Darf ich diese Kleine auch bei mir behalten?«, fragte die Frau Doktor.
Erst jetzt sah er mich an und ich stand Angesicht in Angesicht mit dem Ungeheuer von Bergen-Belsen. Die teuflische Macht war seinem Gesicht anzusehen. Er hatte buschige schwarze Augenbrauen und stechende braune Augen, mit denen er mich von Kopf bis Fuß musterte. Nachdem er mich ausgiebig betrachtet hatte, nickte er der Frau Doktor zustimmend zu und bellte: »Los!«
Bevor er seine Meinung ändern konnte, rannten wir um unser Leben, zurück zu den Kindern und der wartenden Schwester Luba. Als sie hörte, dass ich bleiben durfte, legte sie ihre Arme um mich und sagte: »Jetzt habe ich für den Zucker bezahlt.«
Diese Tasse Zucker hatte mir das Leben gerettet. Der Teil des Lagers, in dem ich gelebt hatte, wurde an diesem Tag in einen anderen Teil Bergen-Belsens verlegt.
Am Nachmittag, als in unserem Bereich wieder Ruhe eingekehrt war, ging ich mit einer kleinen Gruppe und Schwester Hermina zurück in meine alte Baracke. Wir brachten alle Koffer, die ich in meinem Bett versteckt hatte, hinüber in die Kinderbaracke. Bis auf meinen eigenen übergab ich sie Schwester Luba. Ich behielt auch meine Decke und legte sie auf das Bett, das ich mit Max teilte. Wie glücklich waren alle, dass ich nun zum Kinderhaus von Bergen-Belsen gehörte.
Ich war nun schon ein paar Tage bei den Kindern und hatte mich an unser Leben langsam gewöhnt. Sobald ich morgens aufwachte, half ich, die Kleinen mit mehreren Schichten Kleidung warm anzuziehen, und wenn sie einen Mantel besaßen, zog ich ihnen den auch noch über. Tatsächlich waren wir alle gekleidet, als wären wir im Freien. Es war bitterkalt, bald nach Neujahr hatte es wieder geschneit. Die Welt außerhalb des Lagers sah, wenn ich über den Zaun schaute, so weit das Auge reichte, weiß aus und ohne jedes Anzeichen von Leben. Morgens, wenn ich mit den Kindern hinausging, war die Luft klirrend kalt, sodass wir es nie länger als zehn Minuten aushielten. Drinnen kuschelten wir uns aneinander, um uns warm zu halten. Die Stunden dehnten sich und Langeweile breitete sich aus. Die Kinder wurden lethargisch. Es gab sehr wenig zu essen.
Unsere Baracke war die einzige bewohnte in diesem Teil des Lagers, das ganz am Ende lag,
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